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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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aus der Tasche, an dem eine mehrköpfige Familie wochenlang genug gehabt hätte. »Sauer macht lustisch«, kommentierte sie. »Dat kanns de auch jebrauche. Un en paar kanns de ja dä Mama hier lasse. Die kann et immer jebrauche.« Die Tante lachte verschmitzt, und die Mutter packte das Glas und trug es außer Sichtweite.
    Von Maria kam ein Kopftuch, weiß mit blauen und roten Segelschiffchen und so glatt, dass es, wie fest ich es auch unterm Kinn zusammenknotete, immer wieder von den Haaren in den Nacken glitschte. Sie hatte den Stoffrest eigenhändig mit Rollstich eingefasst.
    Hanni mit ihrem Sinn fürs Praktische hatte einen Tauchsieder beisteuern wollen. »Da kanns de dir auf dem Zimmer, wann de willst, wat ze trinken mache.« Doch anders als die Wärmflasche der Tante durfte ich Hannis Gabe nicht mitnehmen. Elektrogeräte wie Tauchsieder, Wasserkocher, Kochplatten standen auf einer Stufe mit »Herren« und »Tieren« und waren auf den Zimmern streng verboten beziehungsweise untersagt. Verboten kam in der Hausordnung nicht vor. Man untersagte. Und zwar »strengstens«.
    »Mannomann«, spottete Hanni, »wat hätt dann ne Tauchsieder met nem Kääl ze dunn? Vielleischt, weil alle zwei nur met Wasser koche! Isch jlaub, dann mache mir dat besser so.« Hanni holte ihr Portemonnaie aus der Tasche und schob mir einen
Schein in die Hand, so schnell, dass ich die Farbe nicht erkennen konnte. »Un nun kauf dir mal wat zum Anziehe. Du siehst us wie früher de Müppe.«
    Ich vergrub den Schein in der Hosentasche.
    »Nun kuck doch nit so bedröppelt.« Hanni stupste mich in die Rippen. »Isch mein et doch nit so! Du bis doch e lecker Mädsche! Da muss de disch doch nit für schäme. Un och nit verstecke!«, Hanni seufzte. »Isch muss jonn«, sie tätschelte ihren Bauch. »Hiermit bin isch nit so schnell.«
    Bettwäsche, Unterwäsche, Handtücher. Zwei Hosen, zwei Blusen, eine Jacke, zwei Pullover. Viel Platz war noch im Koffer. Meine Reclam-Hefte, Das Einmaleins des guten Tons , Steinebuch und Pflanzenbuch, Scivias . Kayser, Staiger, Böckmann, Tschirch. Endlich würde ich auch die Seminare des Altgermanisten besuchen können, die er samstagsmorgens um sieben abhielt; eine Abschreckung, die dennoch nur leidlich funktionierte.
     
    Zwischen Laken und Kissenbezug bettete ich das Großvaterkästchen. Aus der frisch aufgetragenen Goldbronze - das hatte die Großmutter sich nicht nehmen lassen - blitzten die bunten Scherben. Wie hatte der Großvater gesagt: Un wenn wat kaputt jeht, kann mer auch daraus noch wat machen. Dann die Steine. Aniana, Mohren, Rosenbaum, Kreuzkamp, alle Schutzengel nahm ich mit. Bertrams Lachstein. Den Speckstein. Die versteinerte Schuppe. Den Großvaterstein, meinen Namensstein. Unversehrt, golden: Hildegard Palm. Dazu Kreuzkamps Zettel, den er mir vor Jahren zugesteckt hatte, nach meiner Zeit auf der Pappenfabrik: »Dem Sieger will ich das verborgene Brot geben; auch einen weißen Stein will ich ihm geben und auf dem Stein geschrieben einen neuen Namen, den niemand kennt, als der, der ihn empfängt.«
    In einem schallenden Schluckauf verkrümmten sich Stein und Weissagung zu einem neuen Namen: Hilla Selberschuld. Hilla invalidus. Hilla kaputt. Amara. Hatte ich wirklich einmal
gehofft, alles wird gut? So, wie es mir entfahren war, damals, mit dem Bruder am Rhein. Als Bertram mir einen neuen Stein gegeben hatte. Den Wunschstein. Ich wog die beiden Steine in den Händen, die Augen auf Kreuzkamps Zettel gerichtet. Ich lebte. Hatte überlebt. Ich dachte an Maria. Und legte den Namensstein in den Koffer, steckte den Zettel in Scivias. Wisse die Wege. Der Schluckauf verebbte. Ich wischte den schwarzen Fritz am Hosenbein ab, blies der Puppe den Staub vom Kopf wie vor vielen Jahren der Verkäufer auf Schloss Burg, wo der falsche Großvater mir das Negerlein gekauft hatte. Glaubst du wirklich, Kreuzkamp, Gott hätte die Versehrten versehrt, die Kaputten kaputt gemacht, wenn er sie lieber heil gehabt hätte? Unversehrt? Was sollte ich mit einem Buch anfangen, dem so viele Sätze und Seiten fehlten, dass ich es nicht verstand? Ich warf den schwarzen Fritz zu den Unterhosen. Wunder waren etwas für Kinder und Pastoren. Ich wühlte das Großvaterkästchen noch einmal aus dem Bettlaken. Darin die Zettel von Sigismund. »Halb drei am Notstein.« »Nächste Woche Minna von Barnhelm .« »Kann heute nicht.« »Träum schön. Bis morgen. Dein Siggi.« Dein Siggi. Dein.
    Alles war wieder da, und es war doch weit weg. Wie nie

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