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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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erlebt. Nie von mir erlebt. Kinderkram. Nicht einmal verbrennen mochte ich die Papierchen. Ich spülte sie ins Klo. Aber den rot auf gold geprägten Papierring von einer der letzten Festtagszigarren, die der Großvater geraucht hatte, nahm ich mit. Wie hatte ich es als Kind geliebt, diese Ringe am Finger zu tragen, bis sie zerfledderten. Diesen einen hatte ich aufge hoben, als hätte ich geahnt, dass es mit den Goldringen zu Ende gehen würde, bald niemand mehr Stumpen rauchen würde in der Altstraße 2.
    Dann war der Koffer voll, das blau-grüne Schottenkaro beiderseits ausgebeult wie der Bauch unserer Katze kurz vorm Werfen. Kater Paul hatte sich als trächtig entpuppt. Die schönen Steine von Godehard ließ ich in den Schuhkartons im Holzstall liegen.

    Wieder standen sie am Törchen und sahen mir nach. Der Vater im Blaumann; unter den Augen Säckchen faltiger müder Haut. Die Großmutter in ihrer dunkelblauen Arbeitsschürze, grau verfärbt vom Staub der Kartoffeln. Die Mutter, beide Fäuste in den Taschen ihrer Kittelschürze vergraben. »Sach nix dem Papa«, hatte sie mir einen Geldschein zugesteckt.
    Bertram fuhr mit; er trug den Koffer.
    Es war ein Abschied wie keiner zuvor. Tief in den Augen des Vaters sah ich die Sehnsucht, mit mir in den Zug zu steigen, der Welt entgegen, der Stadt entgegen, raus aus dem Dorf, dem Haus, das die Großmutter ihm noch immer nicht überschrieben hatte. Sein eigener Herr sein. Stadtluft macht frei.
    Und da sah die Mutter der Tochter nach und ließ sie laufen, et Kenk, für das sie den Traum einer Kinderschwester geträumt hatte, den Traum einer Heirat mit einem staatse Kääl, Peter Bender, der jet an de Föß hätt. Da ging es dahin, dat dolle Döppe mit den zwei linken Händen, in schäbigen Hosen und Bluse, zwei Nummern zu groß.
    Nur die Großmutter winkte mir hinterher, hatte sich sogar ihr Gebiss in den Mund gesteckt für ein zuversichtliches Lächeln. Sie wusste mich geborgen unter Gottes Dach.
    »Da kommt schon der Bus, beeil dich«, mahnte Bertram.
    »Die Zahnbürste«, ich blieb stehen.
    »Die Zahnbürste?«, echote Bertram.
    »Vergessen«, ich rannte zurück. »Die Zahnbürste.«
    Kopfschüttelnd verschwand die Mutter im Haus, würde dort die Bürste aus dem mit einem grünen Glückskleeblatt verzierten Senfglas am Spülstein greifen. Wortlos kam sie zurück und schob die großzügig in Pergament gewickelte Zahnbürste in meinen Matchbeutel.
    »Der Bus!«, schrie Bertram und machte mir aufgeregte Zeichen: »Beeilung!«
     
    Lange noch spürte ich die Hand des Vaters, mit der er die meine umfasst hatte, als besiegele er einen Pakt, spürte ich die trockenen
Lippen der Mutter meine Wange streifen, fühlte den harten Daumen der Großmutter, mit dem sie mir ein Kreuz auf die Stirn gedrückt hatte, als drückte sie mir zwanzig Jahre Altstraße 2 noch einmal unter die Haut.
    Wir sprachen nicht viel, Bertram und ich.
    »Hast du denn auch die Steine mitgenommen?«, fragte er.
    Ich nickte.
    »Und das Kästchen?«
    »Auch. Und das Fritzchen. Alles dabei.« Da lehnte sich Bertram zurück und schloss die Augen.
    Es war schön, dass Bertram mit mir fuhr. In die Stadt. Schon in der Bahnhofshalle spürte ich, wie ich mich anders bewegte. Wie wohl ich mich fühlte an Orten wie diesem, wo es für mich und meine Mitmenschen Regeln gibt, denen wir folgen müssen, wo ich allein sein konnte, aber gemeinsam mit anderen. Allein unter anderen einfach eintauchen konnte in diese geschäftige Anonymität, diese Atmosphäre unverbindlicher Freundlichkeit, wo kein Anruf einer Nachbarin mich wie aus dem Hinterhalt treffen konnte: Hilla, is de Mama daheim? Hilla, hier nehm dat der Mama mit. Wo ich nicht um die Ecke biegen musste, um alten Schulfreundinnen zu entgehen, die mir Verlobungs- oder Eheringe präsentieren würden.
    »Kuck dir den an«, sagte Bertram, als wir aus dem Bahnhof kamen. Ein Mann stand da mit einem großen Schild: »Höcherl ablösen.« Daneben ein zweiter: »Notstandsgesetze verhindern.« Sie sahen aus wie Zeugen Jehovas, die ein Stück weiter den Wachturm hochhielten, wie schon im letzten Semester, Tag für Tag.
    »Augenblickschen Frollein«, hielt mich einer der Männer an und drängte mir einen grünen Zettel in die Hand. »Auch Ihr Telefon wird abgehört. Raus mit den Nazis aus unseren Leitungen.«
    Ich schmiss den Zettel an der Reibekuchenbude in den Papierkorb zu den fettigen Pappen. »Telefon?«, sagte die Frau neben mir, die ebenfalls das Blatt zerknüllte. »Mir haben

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