Aufbruch - Roman
ihr nicht entgangen waren, aufzuziehen. »Der ist verliebt in dich«, behauptete sie anerkennend, als wir abends bei ihr in den Betten lagen. »Da macht mir keiner was vor. Überleg es dir: Der ist wenigstens da.« Und er hatte Namen und Wohnsitz. Herkunft.
Dirk Anklamm war der Sohn eines Schulzahnarztes. Das hätte mich warnen müssen. Doch die Aufmerksamkeit eines Oberprimaners vom Ambach-Gymnasium sicherte mir die Achtung der gesamten Klasse, nicht nur die der Mädchen. Zumal ich nicht die geringsten Anstrengungen unternommen hatte. Im Gegenteil. Anklamm war mir lästig. Vor allem, wenn er so unverhohlen zuversichtlich nach der Schule beim Brunnen im Park stand. Tag für Tag fragte er, ob er mir meine Tasche abnehmen dürfe, die ich ihm großzügig überließ. Er trug sie dann bis zur Bushaltestelle, Astrid, die denselben Weg hatte, kaum eines Blickes, geschweige denn eines Wortes würdigend.
Kam der Bus, gab er mir die Tasche mit einer ausladenden Geste wieder zurück, verbeugte sich und platzierte sich
beim Papierkorb, von wo aus er mir am längsten nachwinken konnte. Fuhr der Bus los, hielt er die Grußhand mitten in der Bewegung an, als habe er das Zeichen zur Weiterfahrt gegeben.
Was wir miteinander sprachen, schien auch ihm nicht wichtig zu sein. Wichtig war, jedermann sah: Dirk Anklamm brachte ein Mädchen zum Bus. Einmal in der Woche tranken wir zusammen eine Cola in der Milchbar an der Bushaltestelle. Das genügte, damit wir in den Augen der anderen miteinander »gingen«. Mir war das recht. Milchbar und Anklamm erfüllten ihren Zweck. Ich war eine wie alle anderen. Und hatte so meine Ruhe. Mein Alleinunterhalter schirmte mich auf angenehme Art und Weise von wirklichen Gefühlen ab. Ich wollte nicht spielen und erst recht nicht wollte ich nicht-spielen. Fürs eine war mir meine Zeit zu schade, fürs andere mein Herz. Ich wollte keine Liebe. Ich wollte Abitur.
Dann machte Dirk Anklamm den Führerschein, durfte einen roten VW mit Klappverdeck fahren und lud mich zu sich nach Hause ein. Zu seinen Eltern.
Wie ein armer Verwandter, der mitzuhalten versucht, erinnerte Anklamms Haus an die herrschaftliche Wagenstein’sche Variante, vom Keuken’schen Anwesen ganz zu schweigen. Rauputz und schmiedeeiserne Schnörkel vor den Fensterscheiben, die Haustür aus buntem Bleiglas.
Frau Anklamm saß vorm Fernseher, sah kaum auf, als Dirk meinen Namen murmelte, und drückte flüchtig meine Hand. Im Fernsehen streifte eine Herde Rentiere durch eine Schneelandschaft.
»Ich zeige Hilla mein Zimmer«, murmelte Dirk, ergriff meine Hand und zog mich vorbei an einer Kakteensammlung auf einer mehrstöckigen Blumenbank; einem Liegemöbel, das die Großmutter Schäselong genannt hätte, und einem mit allerhand Häkelspitzen bedeckten Klavier, das aussah, als warte es seit undenklichen Zeiten darauf, wieder einmal geöffnet zu werden. Über einen persergemusterten Läufer ging es, auf beigegoldenem
Teppichboden, passend zur seidig schimmernden Rupfentapete, quer durchs Zimmer zur Tür. Auslegeware genoppt, schoss es mir durch den Kopf, fünfzehn Mark der Quadratmeter, Extraqualität.
Dirks Zimmer war eine Bibliothek. Lexika und Fachbücher aus allen möglichen Gebieten. Goethes sämtliche Werke in der Hamburger Ausgabe von Trunz standen da. Kommentiert. So wie Schiller, Hölderlin, Kleist. Alle kommentiert. Mit Wanderkarte, würde Rebmann spotten.
Keine Romane. Keine Gedichte. Albert Ducrocq: Der Mensch im Weltall , Hans Marquardt: Die Strahlengefährdung des Menschen durch Atomenergie , Michael de Ferdinandy: Tschingis Khan. Steppenvölker erobern Eurasien lagen auf dem Schreibtisch.
Dirk sah mich erwartungsvoll und ein wenig unsicher an. »Gefällt es dir?«
Schon als Kind habe er den Wunsch gehabt, zu wissen, erzählte er, während er mir eine Cola einschenkte.
»Das Wissen der Welt?«, lächelte ich, eingedenk des Brockhaus im Kölner Schaufenster.
»Ja«, gab Dirk ernsthaft zurück. »Das Wissen der Welt.« Kaum habe er lesen können, sei ihm ein Kinderlexikon geschenkt worden. Da habe er begonnen, alles auswendig zu lernen.
»Das ganze Lexikon?«, entsetzte ich mich.
»Naja, knapp zweihundert Seiten«, räumte Dirk ein. »Für Kinder eben. Aber das muss mein Gedächtnis enorm trainiert haben. Ich behalte einfach alles. Besonders, wenn ich es gelesen habe. Das sitzt in meinem Kopf wie photographiert.«
Dirk übertrieb nicht. Er konnte in seinem Kopf nachschlagen wie in einem Lexikon. Man konnte ihn alles
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