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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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weißem Hemd mit tiefblauer Plüschfliege, die an einem unterm Hemdkragen verschwindenden Gummiband hing, dieser Dr. med. dent. war mir bekannt. Dieser Schulzahnarzt war mein Schulzahnarzt. Der Schulzahnarzt Rhein-Wupper-Kreis, der mir vor Jahren die Zahnspange verordnet hatte.
    Gesenkten Hauptes ergriff ich seine Hand, eine weiche, beinah knochenlose Hand, deren linker Zeigefinger sich gleichwohl energisch in die Mundwinkel bohren konnte, um, mal rechts, mal links, das Wangenfleisch vom Kiefer zu zerren.
    Kaum öffnete ich die Lippen, um seine mit knarrender Stimme vorgetragene Begrüßung zu erwidern.
    Spätestens an dieser Stimme hätte ich ihn überall wiedererkannt, diesen Dr. med. dent. Heribert Anklamm, der mich damals vor der Klasse die Zähne hatte blecken lassen und dazu »Überbiss« geschnarrt hatte, »Überbiss und Schiefstellung Oberkiefer, Engstellung Unterkiefer«. Eine geradezu sadistische Ausgelassenheit hatte der Schulzahnarzt angesichts dieser Unordnung gezeigt, die aus der Welt zu schaffen er auf Erden war.
    Es fiel mir nicht schwer, Herrn Anklamm mit geschlossenen Lippen ein reizendes Lächeln vorzuführen, kein Problem, mit kaum geöffnetem Mund recht deutlich zu sprechen. Und so hätte ich die Fragen nach meinem Fortkommen im Aufbaugymnasium, der Qualität der Lehrer und des Lehrstoffs zweifellos in zufriedenstellender Tonqualität beantworten können, wäre der Fragende nicht Dr. med. dent. Schulzahnarzt gewesen. Der schaute den Menschen nicht in die Augen, sondern aufs Gebiss und bat mich nach der dritten Frage, der nach der Qualität des Mathematikunterrichts, doch etwas lauter und deutlicher zu sprechen, den Mund aufzumachen, haha, ich sei doch hier nicht beim Zahnarzt, haha.

    Aber da kam mir Dirk zu Hilfe, indem er einen Witz aus der Sammlung des Philogelos, des Lachfreunds, zum Besten gab. Und während Frau Anklamm mit unbewegter Miene den Blick auf Kennedys Leben und Tod gerichtet hielt, rief der Herr des Hauses angeregt: »Da erscheint nun wieder einmal die ganze Antike im hüpfenden Irrlicht des Witzes! Zu Tisch, zu Tisch!« Schlug die weichen Hände zusammen, ein Geräusch, als klatschte die Mutter den Putzlappen gegen den Eimerrand, und drehte den Ton am Fernseher lauter.
    Noch einmal Kennedy vor dem Brandenburger Tor, dem Schöneberger Rathaus, wie oft hatten wir in diesen Tagen diese Bilder gesehen, und dann das andere, immer wieder das andere: der Präsident zusammengeschossen im Fond der Limousine, seine Frau über ihn gebeugt; die Bilder seines Mörders oder des Mannes, der sich als sein Mörder bekannte oder dazu ernannte. Und nun die Übertragung des Begräbnisses.
    »Was darf ich Ihnen geben?« Frau Anklamm ließ den Tortenheber über einer Platte mit Gebäck kreisen. Ich konnte den Blick vom Sarg unter der Flagge Amerikas nicht lösen, war bei der Trauergemeinde im runden Kuppelbau, »Kapitol«, sagte der Sprecher.
    Fern in der Welt wurde der Sarg von Soldaten in den Uniformen der Heeresgattungen auf die Schultern gehoben, gut sichtbar und ganz nah in diesem Wohnzimmer des Schulzahnarztes, wo jetzt ein Törtchen auf meinen Teller fiel, Sahne drauf, während der Mann im Sarg von den Toten auferstand, immer wieder von den Toten auferstand, in bewegten Bildern aus immer fernerer Vergangenheit, Präsident und Vater, ein junger Mann, ein Jüngling, ein Kind, und immer wieder zurück in den Sarg unter die Flagge.
    »Ja, Fräulein Palm, nun lassen Sie es sich schmecken. Und erzählen Sie doch mal, wie das so zugeht auf einem Aufbaugymnasium?« Mühelos beherrschte der Zahnarzt die Kunst zu kauen, zu schlucken und dabei zu sprechen, mit vollem Mund, mit schluckendem, beißendem Mund, zuversichtlich, selbstgewiss. Jetzt wurde der Sarg auf der Lafette abgestellt.

    »Schmeckt es Ihnen nicht?« Frau Anklamm nagte an einer Makrone, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
    »Sie sagen ja gar nichts, Fräulein Palm, hier beißt sie doch keiner.« Herr Anklamm drehte den Kopf vom Fernsehbild weg, vom Sarg auf dem vierrädrigen Wagen weg, der verschleierten Frau, den Kindern weg, mir zu drehte sich der Kopf des Schulzahnarztes: »Natürlich! Ich kenne Sie doch! Mittelschule Großenfeld. Ihnen hab ich damals die Zahnspange verordnet. Den Brief an Ihre Eltern geschrieben! Tragen Sie die Spange denn nicht?«
    »Aber, Papa«, wagte Dirk, das Wort auf der zweiten Silbe betonend, einzuwerfen.
    »Schmeckt es Ihnen nicht?«, wiederholte Frau Anklamm und schob sich ein Mandelhörnchen auf den

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