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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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fragen. Reden konnte man mit ihm nicht. Sein Gedächtnis, sein riesiges Faktenwissen auf den unterschiedlichsten Gebieten kam ihm regelrecht dazwischen. Wo andere Menschen im Gespräch einem Gedanken nachgingen, ein Gespräch führten - führen, sich führen lassen, Umwege machen -, wurde Dirk, bevor er noch zu denken
anfangen konnte, bevor er versuchen konnte, eine eigene Meinung, einen eigenen Gedanken zu formulieren, von seinem Gedächtnis, seinem Wissen überwältigt. Er musste sein Wissen loswerden. Am liebsten hörte ich zu, wenn er entlegene, ganz und gar unnütze Angelegenheiten aus der Antike hervorkramte, etwa aus dem römischen Literaturleben erzählte: Kein Gastmahl habe es gegeben ohne Vorleser, oftmals eine Qual, wenn einer »mit Nuscheln und Näseln« schon beim dritten Buch war, »und noch immer kam der Nachtisch nicht herein«. Bei öffentlichen Lesungen seien die Dichter von gelangweilten Zuhörern sogar mit Steinen beworfen worden. Selbst Martial, den Dichter, hatte Dirk bei einem unserer ersten Treffen parat, so, wie Peter Bender damals Pflanzen aus seinem Blumenbuch. »Dass dir niemand gern begegnet, / dass, wohin du auch kommst, Flucht einsetzt / und gewaltige Öde um dich herrscht, Ligurinus, / dafür willst du den Grund wissen? Du bist allzu sehr Dichter.«
    »Großartig«, hatte ich ihn gelobt und den späteren Bus genommen.
    Danach überreichte er mir jedesmal eine Anekdote aus der Antike wie einen Blumenstrauß.
    »Cicero«, sagte Dirk. » De oratore« , und ich fürchtete schon, er käme mir jetzt mit Latein. Es klopfte. Die Mutter. Kaffeetrinken.
    Getragene Musik erfüllte das Wohnzimmer. Im Fernsehen ein Standbild: das Porträt John F. Kennedys, schwarzumrahmt, mit Trauerflor.
    Frau Anklamm wirkte unscheinbar und korrekt wie ihr Sohn; das gleiche kurze aschblonde Haar, die blasse Haut, helle Augen, die mich gelangweilt musterten. Warum fühlte ich mich fehlerhaft, schiefgetreten wie ausgelatschte Schuhe? Ob es sich denn angenehm lebe in Dondorf, fragte sie mich, Kapitel zwei im Einmaleins des guten Tons: »Wie eröffne ich ein Gespräch?«
    Ehe ich antworten konnte, ergriff Dirks Vater Schritt für Schritt den Raum. Dazu gedämpfte Klänge aus dem Fernseher,
wo noch immer das im Photolächeln erstarrte Antlitz Kennedys stand.
    Fast war Herr Anklamm beim Esstisch angelangt, da machte er einen Bogen, schwenkte nach links zum Fenster, wo ein Aquarium, größer als unsere samstägliche Zinkwanne, einen Alkoven ausfüllte. Hier griff er in eine Silberbüchse und streute mit einem milden, gleichsam segenspendenden waagerechten Schwung, allerlei trockenes Kleingetier, gestoßene Algen und Muschelkalk, so die Erklärung des Sohnes, in das Becken zwischen Wasserpflanzen und Tuff-Felsen, worauf das blaugoldene Fischvolk sich nicht etwa stürzte, sondern, als passe es sich seinem Halter an, gemächlich durch Höhlen, Bögen und andere Schlupflöcher heranschwänzelte und sich glotzäugig, glubschmäulig aus dem Überfluss bediente.
    Im Fernseher war das Standbild verschwunden. Archivfilme zeigten Kennedy beim Schwur auf die amerikanische Fahne: »So wahr mir Gott helfe.« Seine Heirat mit Jacqueline Bouvier, den Familienvater beim Segeln. Der Politiker mit de Gaulle, Macmillan, mit Chruschtschow; zum ersten Mal besuchte ein Präsident der USA den Papst in Rom. Mit Bundeskanzler Konrad Adenauer fuhr er in Köln auf dem Domplatz vor, wo ihn das Transparent »Gaude Felix Colonia« begrüßte, Worte, die Sellmer vor Monaten zu einem seiner unwiderstehlichen Vorträge über die Lebendigkeit des Latein hingerissen hatten. Kennedy hatte den Gruß mit »Kölle Alaaf« erwidert, der Großmutter waren die Tränen nur so runtergelaufen.
    Und er stand noch einmal in Berlin auf der Straße des 17. Juni, vor dem Brandenburger Tor, das mit roten Tüchern verhängt war, stand am Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße an der Mauer mit Stacheldraht und schwer bewaffneten Soldaten, der »Friedensgrenze«, stand auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses. Noch einmal läutete die Freiheitsglocke über den Rudolph-Wilde-Platz, noch einmal hörte man das unvergessliche Bekenntnis: »Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt Berlin, und deshalb bin ich als
freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner.« Der Ton wurde abgedreht.
    Und dann stand Dirks Vater vor mir. Und ich traute meinen Augen nicht: Dieser Mann in häuslicher Tweedhose, melierter Strickweste,

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