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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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jede Geste, jede Bewegung der Körper im Dienste der Musik, ja, mir schien, dass Wagner am Ende nicht die Musik zum Text, vielmehr den Text der Musik zugeschrieben hatte.
    Musik, das war: Erlösung. Verklärung. Der Sänger war Lohengrin. Lohengrin, der Retter. Allein durch die Musik. Die Worte? Ich konnte kaum Wörter verstehen, obwohl ich die Geschichte kannte. Wie nah die hehrsten Worte noch dem Alltag waren und wie himmelsfern diese Musik, die Zufälligkeiten und Einzelheiten nicht gelten ließ, nichts mehr klebte am Stoff, »stets am Stoff klebt unsere Seele«. Nichts bedurfte der Vermittlung. Musik, das nicht Ver-Mittel-bare, das Un-ver-Mittelbare, das Un-Mittelbare, das jeden Mittels bare. Die Substanz des Textes war die Musik. Und die ließ keinen Zweifel am Geschehen.
    Ich war nicht mehr bei mir, ich war bei der Sache, der Sache da vorn, der Sache der Musik, in der Sache der Musik, wenn denn die Musik, diese Musik eine Sache war, diese Sache nicht vielmehr ich selbst war, ich selbst die Musik war. Die Musik, meiner Seele Nahrung, die mich löste von mir, mich erlöste, und erlöse uns von dem Übel. Amen. So soll es sein. Auf immer und ewig. Wenn die Musik der Seele Nahrung ist.
    In der Pause ging ich sofort in den Waschraum. Schloss mich ein und blieb, bis die Klingel zum zweiten Akt rief. Mir sei nicht gut, antwortete ich auf Monikas beiläufig besorgte Frage. Beseligt nickte sie einem Jungen zu, der sie mit einer knappen Verbeugung in unsere Reihe entließ. »Oberprima«, flüsterte sie mir zu. »Auf der Rückfahrt setzt er sich neben mich.« Ich nickte zerstreut.
     
    Weit nach hinten verdrückte ich mich im Bus, sah stur aus dem Fenster. Gefallen, gefallen, schwirrte es von allen Seiten. Bloß nicht reden müssen! Könnte ich, grübelte ich, jemanden lieben,
der mir beides verschweigt, Name und Herkunft? Ist es wirklich ein Glück, das Elsa zerstört? Kann es ein Glück, eine glückliche Liebe ohne Offenheit und Vertrauen überhaupt geben? Hatte Elsa nicht am Ende doch recht mit ihrer Frage, weil sie ihrer Liebe ein Fundament geben wollte? Hatte ich die Geschichte beim ersten Lesen nicht zu sehr mit Kinder- und Märchenaugen gesehen?
    »Sie gestatten?« Ehe ich Ja oder Nein sagen konnte, saß Dirk Anklamm neben mir und klopfte eine Zigarette aus der Packung. Seine Hände standen von den Gelenken ab wie Paddel, die warten, ins Wasser getaucht zu werden. Jetzt bloß kein: Wie hat es Ihnen gefallen?
    Anklamm inhalierte tief, und da war sie auch schon, die Frage, an mich gerichtet, auf dass ich richte, und ich sagte, was ich mir angewöhnt hatte zu sagen, wenn ich nichts sagen, dieses Nichtssagen aber vertuschen wollte, weil nichts zu sagen auch schon eine Antwort gewesen wäre. Ich sagte, um nichts zu sagen: »Interessant.«
    Interessant. Ein Wort für alle Fälle. Allein die Betonung macht die Bedeutung. Innnteressant! Jede Silbe einzeln betont: das klingt nach Begeisterung, geheuchelt, echt, das kommt auf den Grad der Verstellungskunst des Sprechers an; tressant: das genügt gerade der Höflichkeit; interssant, mit Schwerpunkt auf der ersten Silbe, meint wohltemperierte Anteilnahme; interessant in mittlerer Lautstärke, mittlerem Tempo, begleitet von einem abwägenden Wiegen des Kopfes, signalisiert kritische Gewogenheit; interessant mit hochgezogenen Augenbrauen, die letzte Silbe lautlich leicht nach oben gebogen, verrät willentlich das Gegenteil, lähmende Langeweile.
    Ich benutzte das Wörtchen so, dass der Fragende in meine Antwort hineindeuten konnte, was ihm beliebte, nur mein wahres Gefühl, mein lauteres Glück, das wollte ich nicht verraten.
    Und während mein Nebenmann sich mit bleicher Hand eine Zigarette nach der anderen anzündete und dabei von Elsas Tonarten schwafelte, As-Dur und As-Moll, solange sie bedroht ist, dann, nach Lohengrins Ankunft und Sieg, B-Dur …«

    »So, wie der Brautchor«, fiel eine Stimme von vorn ein, »B-Dur für Liebe und Glück.«
    So, während Dirk Anklamm vom hellen A-Dur der Gralswelt, vom fis-Moll der Sphäre Ortruds referierte, schäumte in mir die Musik weiter fort, beglückend und süß. Seit meiner ersten Beichte hatte ich mich nicht mehr so rein, so fromm, so voller Liebe zu mir und zu allen gefühlt. Wenn die Musik der Seele Nahrung ist, o heilige Seelenspeise, o Manna Himmelsbrot. Eine von Hitlers Lieblingsopern? Hatte der sich etwa als Lohengrin, als Retter, gesehen?
     
    Monika fand kein Ende, mich mit Dirk Anklamms ritterlichen Aufmerksamkeiten, die

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