Auferstehung 1. Band
als Mitgift ungefähr 10 000 Deßjatinen Land zugebracht, von denen der größte Teil ihm eines Tages zufallen sollte. Und nun entdeckte er zum erstenmal, wie grausam und ungerecht das System des Privatgrundbesitzes war!
Da er von Natur aus zu denen gehörte, denen das im Namen eines moralischen Bedürfnisses gebrachte Opfer einen wahren Genuß bereitet, so hatte er sich sofort entschlossen, für seinen Teil auf sein Eigentumsrecht zu verzichten, und den Bauern sein eigenes Besitztum, das heißt, das von seinem Vater ererbte kleine Gut abzutreten. In diesem Sinne hatte er übrigens auch seine Doktorarbeit abgefaßt und das Grundeigentum darin behandelt. Das Leben das er auf dem Lande bei seinen Tanten führte, war äußerst regelmäßig. Er stand sehr früh, manchmal um5 Uhr morgens auf, badete sich in dem kleinen Fluß, der am Fuße der Hügel dahinfloß, und kehrte dann durch die noch taufeuchten Wiesen nach dem alten Hause zurück. Nach dem Frühstück arbeitete er oder ging wieder aus und durchstreifte bis 11 Uhr die Felder. Vor dem Essen schlummerte er ein bißchen im Garten; bei der Tafel belustigte und entzückte er seine Tanten durch seine unermüdliche Fröhlichkeit; abends las er wieder oder blieb im Salon bei seinen Tanten, die ihm das Patiencelegen beibrachten. Oft konnte er in der Nacht, namentlich in den Mondnächten, nicht einschlafen, denn die in ihm brausende, jugendliche Lebensfreude hielt ihn wach; dann ging er bis zum Tagesanbruch in den Garten und überließ sich seinen Träumen.
So war sein Leben ruhig und glücklich während des ersten Monats bei den Tanten verflossen, und während dieses ganzen Monats hatte er das junge Mädchen nicht einmal beachtet, das halb als Mündel seiner Tanten, halb als Kammerzofe neben ihm lebte. Unter der Obhut seiner Mutter aufgewachsen, besaß er noch zu 19 Jahren die naive Unschuld eines Kindes. Er dachte an die Frauen nur vom Standpunkte der Heirat, und alle die, die sich mit ihm nicht verheiraten konnten, waren für ihn keine Frauen, sondern nur »Leute«. In demselben Sommer, am Tage vor Himmelfahrt, besuchte eine Dame aus der Nachbarschaft die beiden alten Fräuleins in Begleitung ihrer Kinder und eines Malers ländlicher Herkunft, eines Freundes ihres Sohnes. Nach dem Thee veranstalteten die jungen Leute auf einer frisch abgemähten Wiese vor dem Hause einen Wettlauf. Katuscha wurde aufgefordert, am Spiele teilzunehmen, und kurz darauf mußte Nechludoff mit ihr zusammen laufen. Sie war reizend, und wie alle andern sah auch er sie mit Wohlgefallen; doch der Gedanke, es könne sich zwischen ihm und ihr eine intimere Beziehung herausbilden, war ihm nicht in den Sinn gekommen.
Nach der Spielregel mußten sie sich beim Laufen anfassen, und der junge Maler sollte versuchen, sie zu haschen. »Es wird mir schwer werden, die beiden einzuholen«, dachte er, und dabei lief er doch mit seinen kurzen und etwas krummen, aber kräftigen und muskulösen Muschikbeinen sehr gut.
»Eins, zwei, drei!« – er gab das Zeichen, indem er in die Hände klatschte. Katuscha näherte sich lächelnd Nechludoff,ergriff kräftig mit ihrer kleinen Hand die seinige und lief schnell nach links, wobei man das Rauschen ihres gestärkten Rockes vernahm.
Auch Nechludoff war ein guter Läufer, und da er sich ebenfalls von dem Maler nicht fangen lassen wollte, so war er Katuscha schnell vorangelaufen, und befand sich jetzt am Ende der Wiese. Hier drehte er sich um und sah, daß der Maler Katuscha verfolgte; sie aber entwischte ihm und entfernte sich immer mehr nach links. Dort befand sich ein Syringengebüsch, hinter das niemand laufen sollte, doch Katuscha lief dorthin, um nicht erwischt zu werden, und Nechludoff, ihr Partner, mußte ihr nacheilen. Er hatte vergessen, daß sich neben dem Syringengebüsch ein mit Nesseln bewachsener Graben befand. Er stolperte, verletzte sich die Hände, machte sich an dem Tau naß, der bereits auf den Blättern lag, und fiel in den Graben, sprang aber gleich wieder lachend auf und lief mit einem Satz hinter die Syringen.
Katuscha, aus deren großen, schwarzen Augen das Lächeln noch nicht verschwunden, war, stürzte ihm entgegen, und sie reichten sich die Hände.
»Was giebt's denn, Sie sind gestolpert?« fragte sie und sah ihn mit ihren großen Augen lächelnd an, während sie sich mit einer Hand die Haare glatt strich.
»Ich hatte diesen Graben ganz vergessen,« versetzte Nechludoff, – ebenfalls lächelnd und ohne ihre Hand loszulassen. Als sie sich
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