Auferstehung 1. Band
hatte.
Wenn er diese Krisen überstanden, ermangelte Nechludoff niemals, sich Lebensregeln vorzuschreiben, die zu befolgen er sich dann vornahm. Er führte ein Tagebuch und »schlug«, wie er sich selbst ausdrückte, »eine Seite um.« Doch jedesmal hatte er sich in dem Verkehr mit der Welt fortreißen lassen, und war unwillkürlich wieder auf denselben Punkt oder noch tiefer, als vor der seelischen Krisis, zurückgesunken.
Zum erstenmal hatte er eine solche »Reinigung« in dem Sommer vorgenommen, als er seine Ferien bei seinen Tanten verlebt. Die Krisis, eine Krisis jugendlicher Erregung, war damals sehr stark gewesen, und die Folgen hatten ziemlich lange angedauert. Die zweite Krisis hatte stattgefunden, als er vor dem Kriege gegen die Türken sein Leben hatte opfern wollen und sich nach dem Kriegsschauplatz hatte schicken lassen. Diesmal aber waren die Folgen der Krisis schnell verschwunden. Die dritte Krisis hatte schließlich stattgefunden, als er die Armee verlassen, um sich ganz und gar der Malerei zu widmen.
Nie hatte er sein Gewissen seitdem »gereinigt«, und daher kam es, daß der Unterschied zwischen dem, was ihm sein Gewissen befahl und dem Leben, das er führte, noch nie so groß gewesen war. Er fühlte das und war entsetzt darüber. Der Abgrund war so tief, daß es ihm zuerst unmöglich erschien, ihn zu überbrücken.
»Du hast schon öfter als einmal dich zu bessern versucht, und es ist dir nicht gelungen!« sprach eine geheime Stimme in ihm. »Wozu einen neuen Versuch machen? Und außerdem stehst du in dem Falle nicht allein da, ein jeder ist so wie du!«
Doch das moralische, freie, thätige, lebendige Wesen, das einzige, wahre Wesen, das in jedem von uns lebt, hatte sich in diesem Augenblick in ihm enthüllt. Er hörte es, er mußte es hören und daran glauben. So ungeheuer auch der Unterschied zwischen dem war, was er war und was er hatte werden wollen, dieses innere Wesen erklärte ihm, daß alles noch möglich war.
»Ich werde die Bande der Lüge brechen, in die ich verstrickt bin, so schwer es mir auch fallen mag, ich werde alles gestehen und die Wahrheit sagen unddanach handeln,« beschloß er. »Ich werde Missy die Wahrheit sagen, werde ihr sagen, daß ich ein Wüstling bin, daß ich mich nicht mit ihr verheiraten kann und sie um Verzeihung bitten, daß ich störend in ihr Leben getreten bin! Ich werde Maria Wassiljewna sagen... Oder nein, ich werde ihr nichts sagen, aber ihrem Mann werde ich sagen, daß ich ein Elender bin, der seiner Freundschaft unwürdig ist. Und auch Katuscha werde ich sagen, daß ich ein Elender bin und gegen sie gesündigt habe. Ich werde alles thun, um ihr Schicksal zu mildern, ich werde sie wiedersehen, und sie um Verzeihung bitten, wie es die Kinder thun...«
Er hielt einen Augenblick inne und fuhr fort: »Und wenn es sein muß, werde ich sie heiraten!«
Er hielt von neuem inne. Seine innere Aufregung wuchs von Minute zu Minute. Plötzlich faltete er die Hände, wie er es in seiner Kindheit that, erhob die Augen und sprach:
»Herr, mein Gott, komm du mir zu Hilfe, erleuchte mich und dringe in mich ein, um mich zu reinigen!«
Nechludoff betete. Er bat Gott, ihn zu erleuchten, und doch hatte sich das Wunder, um das er in seinem Gebete flehte, schon vollzogen. Gott, der in ihm lebte, hatte wieder von seinem Gewissen Besitz ergriffen, und Nechludoff fühlte nicht nur die Freiheit, die Güte, die Freude des Lebens; er fühlte auch, daß sich noch alles zum Guten wenden konnte. Er fühlte sich im stande, alles Gute zu vollbringen, was nur ein Mensch zu vollbringen vermag.
Und Thränen traten in seine Augen; gleichzeitig gute und böse Thränen, gute, weil es Thränen der Güte waren, die das Erwachen dieses inneren Wesens hervorgerufen, das Jahre hindurch in ihm geschlummert hatte; doch auch böse Thränen, weil es Thränen des Stolzes und der Bewunderung für sich selbst und seine Seelengröße waren.
Er erstickte, trat zum Fenster und öffnete es. Das Fenster ging auf den Garten hinaus, und die Luft war frisch, klar und still. Ein Geräusch von Rädern hallte in der Ferne wieder, dann ward wieder alles still. Unter dem Fenster zeichnete sich der Schatten einer großen, kahlen Pappel auf dem Sande der Allee und dem Rasen ab. Links erschien das Dach der Scheune, das im Mondscheinganz weiß aussah, Nechludoff betrachtete den von sanftem Silberlicht überfluteten Garten, die Scheune und den Schatten der Pappel und sog die belebende Nachtluft ein.
»Wie schön
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