Auferstehung 1. Band
und herbewegend, fort, »so muß ich gestehen, daß in seiner Lehre viel Wahres liegt, doch manchmal geht er zu weit; ganz gewiß!«
»Glauben Sie auch an die Erblichkeit?« fragte die Fürstin Nechludoff, dessen Schweigen ihr peinlich war.
»Die Erblichkeit? nein, daran glaube ich nicht,« versetzte er auf's Geratewohl, ohne die seltsamen Bilder, die ihm seine Phantasie vorspiegelte, verscheuchen zu können.Er schwieg von neuem, Sophie Wassiljewna warf ihm einen durchbohrenden Blick zu und sagte:
»Aber ich halte Sie zurück und vergesse ganz, daß Missy auf Sie wartet. Gehen Sie zu ihr, sie hat die Absicht, Ihnen ein neues Stück von Schumann vorzuspielen; Sie werden sehen, es ist sehr interessant!«
»Sie hat gar nicht die Absicht, mir etwas vorzuspielen. Das alles sind Lügen, die sie, ich weiß nicht warum, erfindet,« dachte Nechludoff, als er sich erhob und seine Lippen auf die weiße, knochige und mit Ringen bedeckte Hand Sophie Wassiljewnas drückte.
Im Salon traf er Katharina Alexijewna, die alte Jungfer, die ihn im Vorbeigehen aufhielt und, wie gewöhnlich, in französischer Sprache zu ihm sagte:
»Ich sehe, Ihre Thätigkeit als Geschworener hat einen niederschmetternden Einfluß auf Sie ausgeübt!«
»Das ist wahr, entschuldigen Sie mich, ich bin heute abend nicht bei Laune und habe nicht das Recht, andere mit meiner Stimmung zu langweilen,« entgegnete Nechludoff.
»Warum sind Sie denn aber nicht bei Laune?«
»Sie müssen mir schon gestatten, das zu verschweigen,«
»Haben Sie denn vergessen, daß Sie neulich erklärt haben, man müßte immer die Wahrheit sprechen? Sie haben diese Gelegenheit doch selbst benutzt, um uns allen grausame Wahrheiten zu sagen. Warum wollen Sie sie denn heute nicht sagen?«
»Du erinnerst dich, nicht wahr, Missy?« fügte Katharina Alexijewna hinzu und wandte sich zu dem jungen Mädchen, das eben eingetreten war.
»Wir scherzten an jenem Abend,« versetzte Nechludoff in ernstem Tone, »und im Scherz ist so etwas möglich. In Wirklichkeit sind wir so erbärmlich, oder wenigstens ich bin so erbärmlich, daß ich gar nicht daran denken mag, die Wahrheit zu sagen.«
»Sie haben unrecht, Ihr Wort zurückzunehmen, sagen Sie lieber, wir sind alle erbärmlich,« entgegnete Katharina Alexijewna heiter, ohne die ernste Stimmung Nechludoffs zu bemerken.
»Nichts ist schlimmer, als sich selbst zu gestehen, daß man nicht bei Laune ist,« erklärte Missy. »Ich gestehe es mir nie selbst, und darum bin ich auch immer bei guterLaune. Kommen Sie mit, wir wollen versuchen, Ihre schlechte Stimmung zu verscheuchen.«
Nechludoff empfand ein Gefühl, wie es die Pferde haben müssen, wenn man ihnen die Zügel anlegt, um sie anzuschirren, und noch nie hatte er eine solche Furcht empfunden, sich anschirren zu lassen.
Er entschuldigte sich schließlich und sagte, er müsse nach Hause zurück.
Als Missy ihm die Hand zum Abschied reichte, hielt sie die seine länger als gewöhnlich fest und sagte:
»Vergessen Sie nicht, daß das, was Sie bekümmert, auch gleichzeitig Ihre Freunde bekümmert; Sie werden morgen kommen, nicht wahr?«
»Ich hoffe es,« versetzte Nechludoff.
Er schämte sich, wußte aber nicht, ob seinet- oder ihretwegen, darum beeilte er sich, fortzukommen, denn er wollte sein Schamgefühl nicht sehen lassen.
»Was bedeutet das? ich bin im höchsten Grade erstaunt,« sagte Katharina Alexijewna, als er den Salon verlassen hatte. »Er ist ganz verändert! Jedenfalls verletzte Eitelkeit! Unser lieber Dimitri ist ja so empfindlich!«
»Ah bah, wir haben alle unsere guten und schlechten Tage,« erwiderte Missy in gleichgiltigem Tone, doch ihr Gesicht zeigte einen ganz andern Ausdruck, als wie sie Nechludoff hatte sehen lassen, und in ihrem innersten Herzen sagte sie sich:
»Wenn mir der nur nicht auch verloren geht! Nach alledem, was zwischen uns vorgegangen ist, wäre das recht schlecht von seiner Seite.«
Hätte man Missy gefragt, was sie unter den Worten: »was zwischen uns vorgefallen ist«, verstand, so hätte sie wohl nichts bestimmtes darauf antworten können. Dabei hatte sie aber doch die klare Empfindung, Nechludoff habe nicht nur Hoffnungen in ihr erweckt, sondern ihr sogar fast versprochen, sie zu heiraten. Es waren keine deutlichen Worte zwischen ihnen gefallen, aber es waren doch Blicke, Lächeln, Anspielungen und bedeutungsvolles Schweigen. Das hatte ihr genügt, um ihn als den ihrigen zu betrachten, und der Gedanke, ihn zu verlieren, war ihr sehr
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