Aufgelaufen
nutzt sich mit der Zeit ab. Die ehemals nickende Mutter auch, die starb als erste. Was konnte auch schlecht sein an dem, was der Vater ihm tat, das ihm geholfen hatte, ein Mann zu werden, fragte Wilhelm der Erste, in einer schwachen Minute einmal seine Frau Martha, die Letzte. Auch Paul fragte mit glubschenden Augen in einem eher seltenen wie volltrunkenem M o ment seine Frau, die Allerletzte, der er sonst nie eine Frage stellte. Da die allerletzte Frau nickte, wie zu erwarten, gab er sich die Antwort wieder einmal selber: War er nicht ein gerechter Mann für Führer, Volk und V a terland, der eigentlich nie fragte, nicht wahr? Der alles trug, egal was. Er, Mann in schwarzer Uniform in tiefstehender Lebenssonne und mit bli t zenden Runen. Dienend Odin, der tausendjährigen Neuzeit im einig Reich. In einem Krieg, der zu führen war. Hurra! Den Schwüren, die zu schwören waren. Hurra! Hurra! Hurra! Dem Eid an der Fahne, usw., usw. Den Versprechungen. Dem Endsieg. Der Verwundung. Dem Tod. Der Gefangennahme. Hunger. Folter. Schlägen. Demütigungen. Dem Bergbau. Dem Dreck. Den Eiswüsten Sibiriens. Den Flüchen. Der Angst. Der Flucht. Dem Ankommen. Ohne Schuld und Schuldigsein.
Hatte er nicht schließlich mit seinen Idealen dafür bezahlt , und nun mit dem Leben ?
„Führer befiehl, wir folgen“, hieß es einst. Paul meinte es ernst, folgte und war überall, wo der Führer ihn haben wollte. Und wäre noch ganz woanders, wenn ... Doch das hatte er hinter sich, glaubte er. Ja, die Frau, später der Sohn, das ihn verurteilende deutsche Gericht, die zwei Jahre Haft, die in den Schulen gelehrte Geschichte, und das ewige Geplärre der Juden rund um den Globus waren Schuld am irgendwann verlorenen Denkbild. Wäre er bloß nach Argentinien geflohen, vieles hätte er sich erspart.
Ach, wie war der Einmarsch in Polen leicht. Diese freudigen Beutezüge durch Belgien, Holland. Ach, wie hoch stand die Sonne in Frankreich, bis in den Süden hin. Und was hatte er nicht alles an Ländern und Mösen erobert. Den Herzen in Schmerzen. Hatte gelebt, geliebt, gesoffen. Mit Führer, Papst und Gott diese leichten Erfolge im Krieg, im Leben, in der Liebe und im Suff. Das Dasein wie überreife Kirschen gepflückt. Was für ein jubelndes Herz. Ein stets bereiter Schwanz. Ein unnützes Hirn, doch das wusste er nicht. Und was hätte noch alles kommen können in tausend Jahren Selbstgerechtigkeit, Ignoranz, Hochmut und Heuchelei. Ja, das Deutsche Reich auf eine höhere Treppenstufe der Zivilisation stellen, das war das Ziel und kein Tabu, das es nicht gelte , zu brechen, als er freiwillig nach Mauthausen, nach Auschwitz ging, um an der Menschenauslese mi t zuhelfen. Was gab es Wichtigeres? Er fragte nicht. Er folterte ohne En t rüstung, im Prinzip ohne Menschenwürde. Alles in Klarheit und Substanz. Notwendig und von oben begründet. Schließlich hatte der Staat Würde und Leben seiner Bürger vor Untermenschen und ihresgleichen zu schü t zen. Punkt und auch Ausrufungszeichen. Paul gliederte sich in die Gilde der Massenmörder ein, ohne sich selber Gewalt anzutun. Wie alle. Er war der Oberen Werkzeug. Unterließ eigenes Denken und Handeln. Zerschlug Menschen durch Schmerz, Angst, Verlassenheit und Tod. Erst in Pflich t erfüllung, dann vergaste, erschlug, erschoss er sie in Willkür – mit Freude und Wut, aus Spiellust und elementarem Vernichtungswillen. Später trö s tete er sich, wenn überhaupt: Es war unwertes Fleisch. Nur das. Und die Tortur des Tötens Technik. Was sonst? Ster ben war nötig. Wie anders wäre ein großdeutsches Reich sonst möglich gewesen ? Eigener Schmerz ist dem Sein abträglich; ist gefährlich und irreführend wie Liebe. Man muss vieles von Allem ertragen und nichts sagen. Nie kapitulieren. Lieber lügen und nicht gestehen, dass man nichts oder viel begangen hat, dass man in sich aber weiß, begangen zu haben , oder nicht, das muss man ve r steckt halten wie sich selber. Paul handelte nach dem Motto: Rettet U n schuldige wie mich, lasst sie dem Wissen über Schuld widerstehen. Denn über den Sieg entscheidet die Gewalt, nicht das Denken und Reden da r über, das Wissen. Der Sieg gehört dem Stärkeren, dem, der nicht zögert und denkt, sondern dem, der das Denken ausschaltet und einfach tut. Di e se alles sprengende Feuerkraft in Disziplin mit Lust, dem Kampfgeist, der Moral – der eigenen. Und nicht zuletzt gerade der die und das. „Ich tat, was mir befohlen.“ So schrieb er den Brief:
Martha, meine Frau.
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