Aufgelaufen
Ich bin verwundet, erhielt vom Iwan einen Obe r armdurchschuss. Ich habe Schmerzen. Doch es geht alles vorbei, denn ich bin hier im Feldlazarett in guten Händen. In ein paar Wochen werde ich auf Urlaub zu Hause sein, dann werde ich dir ein Kind machen. Es wird ein Junge sein. Der Führer braucht Soldaten für den Endsieg. Er wird Alfred heißen. Gruß aus Russland.
Heil Hitler!
Paul
Auf einem Bild trug er Uniform. Schwarz, Stahlhelm mit Totenkopf und SS darauf, Maschinenpistole vor der Brust. Und er sah mutig und anstä n dig aus, irgendwie. Später, wieder mit Datum hinten drauf, der alte Pre u ße, ein Foto vor einer Holzwand mit Stacheldraht als Krone. Noch eins vor einem doppelten oder dreifachen Zaun. Hinter dem Zaun zerlumpte Männer, hohle Gesichter. Halb verhungerte Kinder. Bleiche Frauen, die ihre Finger wie im Gebet in den Draht krallten. Diese Augen ... Oh Gott, wo warst du?
Das Gesicht Pauls auf den ersten Blick wie auf all den anderen Fotos. Und doch anders. Nicht wegen des fehlenden Stahlhelms. Das hier war mit Feldmütze, in Dienstuniform, mit Pistole und Schlagstock. Nein, es war der Blick. Dieses Abwesend- und doch Anwesendsein. Das ängstliche Zurückweichen, als fürchte der Mann die Kamera. Als könnte man sehen, was er an Grauen getan und was er noch tun würde; wozu er in der Lage, jetzt, und in ähnlichen Situationen.
Pierre hatte ein solches Ahnen durch die Kindheit begleitet. Dazu die Trauer der Mutter. Das Heft mit Notizen. Und die Fotos – nun. Rüc k sichtslos und ohne Hemmungen in unmenschlicher Nacht war die dunkle Gestalt des Vaters um ihn, in ihm, wenn er schlief, träumte, oder nur so tat. „Alfred!“, drohte der. Und auch deshalb benannte er sich um in Pie r re; Alfred, nein, nie ...
Es lief darauf hinaus, dass Paul sich durch Gewalt punktuell Höhepun k te verschafft hatte in seinem rastlosen, sich nicht schonendem Dasein. Dafür, dachte er nun, wo er am Verrecken war, hätte ihm Ehre und Ane r kennung gebührt und nicht der Tod. Es lag sowieso eine Verwechslung vor, denn er wollte sich vom Sohn nur das holen, was ihm zustand, nichts weiter. War es nicht ein Spiel? Ja, es war ein Spiel, und nun sollte es aus sein ... Nein, ein Spiel war es nicht gewesen. Sein Leben war ein Angebot der Treue, dass nun nicht belohnt wurde. Er bot Treue und erntete Niede r tracht, den Tod gar. Es war ein Missverständnis, sicher. Denn das ihm zugeteilte Leben hatte ihn sozial verwahrlosen lassen, nicht er sich selber. Und nun folgte in ihm schon wieder diese unheilvolle Frage an den Sohn, die er sich oft gestellt, dem Sohn aus Angst bisher aber nie und er wusste warum: „Liebst du deinen Vater, Sohn?“
Und was der darauf antworten würde, wusste er eigentlich vorher und fragte dennoch; und es zischte ihm schon allein beim Gedanken daran schmerzhaft durch die Ohren, dieses schnalzende hartscharfe: „Nein, ich liebe dich nicht, liebte dich nie, werde dich nie lieben. Du gehst mir am Arsch vorbei, du Menschenschinder, du Massenmörder!“
Und es war ja immer so: Vorgeschobene Dankbarkeit konnte man auf Oktoberfesten oder Betriebsfeiern oder sonstwo einfordern, hier, auf dem Sterbebett nicht. Da konnte nichts eine Rolle spielen, nicht mal der Tod, denn da krepierte man ohne zu wollen mit geschlossener Schnauze, alles andere wäre sekundär. Mit diesem Wissen jedoch ging es ihm in seinem Käfig auch nicht besser. Nicht im blinden Zufall Leben. In seiner Wut, zwischen Pflichterfüllung, Leben und Tod. Rote Blutluft war. Vom Alten verschuldet. Von Effie freigesetzt. Ihr Stöhnen, Röcheln, Keuchen. Die Hitze abgehenden Lebens. Dagegen Pierres Ruhe kalt wie Eis. Diese Überlegenheit des Profis. Das Anlegen einer Druckkompresse an ihrem Leib. Das Verschnüren des Verbandspäckchens mit dem Bademantelgü r tel. Hände da, wo sie sein mussten. Und mit Herzschmerz der Lebenskuss. Mit Liebe.
„Es wird, Effie! Ich bringe dich ins Krankenhaus!”
Die zarte Person konnte er mühelos tragen. Er hatte einmal einen ve r wundeten Kameraden Kilometer weit ... Lediglich an der Treppenbiegung verharrte er, um zu fragen: „Hältst du durch?”
„Ja, ja, es geht mir gut.” Dann seufzte sie, von weit her der Ton. Einen ihrer Arme um seinen Hals, der andere hing leblos herab, stand er auf die Straße. Keine fünf Minuten waren es zum Krankenhaus.
5
„Es wird mit Ihrer Frau!”, sagte der Arzt. Dann verschwand sie hinter gläsernen Türen. Davor saß er wartend auf einer Bank, als
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