Aufgelaufen
er wenigsten sechs Monate überbrücken, danach würde man sehen.
Der Nachmittagszug ins Städtchen war weg. Er hatte es geahnt. Ein Stück Draht war schnell im Müllcontainer gefunden. Pfeifend saß er im Auto, hatte „Phantom der Oper“ eingeschoben: „Sing, ja sing“, forderte das Phantom die Schöne auf. Pierre träumte. Lange vor dem Lager ließ er das Auto stehen, rasch die Fingerabdrücke weggeputzt und ab ging’s. Pünktlich stand er am Drahtzaun.
„Ich habe gewettet, dass du pünktlich bist“, freute sich Hugo.
„Hätte ich nicht“, dachte Pierre.
Alltäglich spürbar war die Einschnürung der Persönlichkeit, der imme n se Zwang, hier, wie in jedem Knast. In den Stuben gab es unter den G e fangenen keine Freundschaften. Nähe war sexuelles Interesse, das in der Latrine erledigt wurde. Pierre besuchte lieber nach Besuchen bei Effie einen Puff; Not kennt kein Gebot. Nach dem vierten Ausgang standen vier Autos im Wald. Ein Jäger fand die.
Hugo warnte: „Die haben dich in Verdacht, Pierre.”
„Warum mich?”
„Die anderen Ausgänger werden gebracht. Du bist der Einzige, der se l ber kommt!”
Bei der siebenten Fahrt hatten sie ihn. Eine „Mausefalle“ nahe dem Städtchen war sein Verhängnis. Bei der Kontrolle seines Spinds fanden sie „Phantom der Oper“.
„Ah, die Originalaufnahme mit Hofmann und Kaufmann. Sehr schön, die wird schon lange von ihrem Besitzer vermisst!”
Zurück in Fuhlsbüttel saß er vier Wochen verschärften Arrest ab. Als er aus dem Keller kam, fand er einen Brief seines Anwalts vor. „... ist ihre Verlobte wie gewünscht in das Pflegeheim XY verlegt worden. Die Ko s ten für sechs Monate habe ich von Ihrem Konto abgeführt, Auszug anbei. In ihm war Sonntag. Am Montag erhielt er wegen der Autodiebstähle die Anklageschrift. Sein Anwalt rechnete mit achtzehn Monaten Nachschlag. Elf Monate waren es schließlich. Wegen der besonderen Umstände, sagte der Richter. Die Beisitzerin des Richters hatte angesichts seiner Geschic h te Tränen in den Auge, und nickte ihm verstohlen zu, als er abgeführt wurde.
Knast kann die Hölle sein, wenn man auf Entlassung wartet. Kommt es bei den Häftlingen zu Aggressionsausbrüchen, gibt es Prügel, Beruh i gungszelle, Gitterbett, Zwangsjacke, Medikamente. Pierre besuchte den Anstaltspfarrer.
„Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, mein Sohn.”
Zehn Tage später führte ihn ein Vollzugsbeamter aus.
„Die Acht bleibt aber dran!”
Trotzdem eine selige Stunde für Pierre; Effie schlief die ganze Zeit.
„Was haben Sie ihr gegeben, dass sie so fest schläft?”, fragte Pierre den Arzt.
„Sind Sie ein Angehöriger?”
„Nein, aber ich bezahle den Scheiß hier ...”
„A uskunft erhalten nur Angehörige. ”
„Er ist ihr Verlobter”, sagte der Vollzugsbeamte und hielt dem Arzt Pierres Akte vor.
„Das zählt hier nicht – und Ihr Wisch schon gar nicht”, und: „Verlassen Sie sofort die Klinik!”, nachdem Pierre ihn „Arschloch“ genannt hatte.
„Ich werde dafür sorgen, dass Sie Hausverbot bekommen, und gegen Sie,” der Arzt reckte den Finger gegen den Beamten, „werde ich eine Dienstaufsichtsbeschwerde einleiten.”
Nicht nur Pierre ahnte, dass in der Klinik etwas faul war.
6
Sechs Wochen später stand er an ihrem Grab.
„Woran?”
„Herz-Kreislaufversagen, steht im Arztbericht.”
„Herr Rechtsanwalt, das ist eine Lüge! Als ich Effie besuchte, machte sie einen durchaus gesunden Eindruck, sie schlief. Ich bin sicher, dass sie ohne Grund ruhiggestellt worden ist!”
„Sie meinen, Medikamentenmissbrauch seitens der Klinikleitung?”
„J a! Oder eine Pharmastudie oder Ä hnliches ...”
„Gut, ich werde mich darum kümmern. Übrigens, die Klinik hat die Kostenrechnung geschickt. Sie bekommen das zu viel gezahlte Geld in den nächsten Tagen.”
Er war wie tot. War mit ihr. War einsam alt und weich geworden. Stand blasse Tage am Fenster und sah in den Hof. Frisch gefallener Schnee knirschte unter den Tritten der Wachtposten. Glatt gebügelt die Nacht. Manchmal schrie er gegen das Dunkel an, rauchte, obwohl er nicht rauc h te.
Er organisierte Spiritus. Den versetzte er mit Obst, zuckerte, gab Kakao dazu, soff die Brühe. Schluckte Verdünner aus der Tischlerei, Pinselrein i ger. Er wurde zur Laus. Die Seele nörgelte und stach gegen sein Gewi s sen. Dann kam der Moment, da beteiligte er sich an der Lüge Leben nicht mehr, an der Wahrheit halbtoter Zeit. Er
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