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Aufgelaufen

Aufgelaufen

Titel: Aufgelaufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Koehn
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er.”
    „Sag mal, bumst du ihn?”
    „Habe ich noch nie.”
    „Noch nie?”
    „Nein. Er hatte einen Autounfall. Seit dem kann er nicht mehr.”
    „Hat er das gesagt?”
    „Ja, wer sonst?”
    „Was macht er mit dir?”
    „Er sieht mich an.”
    „Nackt?”
    „Ja.”
    „Mehr nicht?”
    „Nein, mehr nicht!”
    Sie verschwieg die wöchentliche Prostatamassage, nach der der Alte verlangte, dass er sie überall streichelte, den Finger in den Anus steckte, sie mit einem Kunstpenis bedrängte. Dass sein Schachfreund sie auch ...
    „Ich möchte, dass das aufhört, mit dem ‚Nacktansehen’!”
    „Ja, aber wie?”
    „Wir werden eine Lösung finden.”
    „Ja ...”
    „Ich liebe dich!”
    „Ich dich auch!”
    Worte wie Regenbogen. Sommerwind. Leben, Hoffen, Leiden und Ste r ben. Wie der nie verhallende Ruf nach Tod: Ich liebe dich – ich dich auch. Doch er wusste, nichts war von Dauer. An einem Wochenende, gegen Mittag, Effie und er lagen im Bett, trat der Alte die Tür ein. Eine schäbige Tür aus Fichtenholz mit Astlöchern darin. Kein Problem. Zehntelseku n den später stürzte er sich auf sie, ein Messer in der Hand.
    „Ihr Saubande!”
    „Hör auf, Paul, du bringst mich um!”, schrie sie nach dem ersten Stich in ihren Körper panisch.
    „Ich mache euch kalt!”
    Der zweite Stich traf ihren Arm. Dann war Pierre dazwischen. Und in der Abwehr weiterer Messerstiche hatte er ihn gekonnt am Hals.
    Ja, es sah locker aus, angeboren, angelernt, oft trainiert, wie er den To b süchtigen auf den Rücken brachte. Ohne Kraft zu gebrauchen, beruhigte er den in Nullkommanichts. Es knackte lediglich leise wie ein trockener Ast, auf den man trat. Und röchelte, als schliefe wer und träumte.
    „Das war’s, Effie“, dachte er. Hörte sirrenden Atem. Und in seinem Hirn ein Sausen wie von einem Sturm. Doch dann Stille. Und kein Blut des Alten. Leere. Nur Angst um Effie. Und schlechte Luft, die vom Ko t gestank des Alten kam. Vom Urin, der dem die Hose weichte, wie er sah.
     
    „Ich war schon überall, hatte Sieg und Niederlage vor Augen“, krochen Paul Gedanken durchs Hirn, krallten sich fest – und gaben ihm endlich den Rest. „Und jetzt werde ich in dieser schäbigen Bude sterben, ermordet von meinem Sohn, ausgerechnet“, dachte er, der sonst das Sterben durc h aus positiv  betrachtete.
    Doch dann, als sein letzter Atemzug begann, als die von Gott geliehene Seele die Form eines zerknüllten Papiertaschentuchs annahm, als der Odem aus dem Torso zog, hin zu neuen Horizonten, als das eben noch blendend weiße Papiertaschentuch zerknüllt und aus dem Fenster gewo r fen, und der sanfte Flug durch Raum und Zeit begann, der nie enden wü r de; als Schmerzen und Schuld nachließen, da war er endlich in der ewigen Sekunde der Vergangenheit und in der Erlösung von allem Übel durch den Herrn. Und es begann neu.
     

4
     
     
    Paul hatte sein Vater ihn genannt, ein treudeutscher Vater, der Wilhelm hieß. Martha, die Mutter, hatte zu Pauls Namensgebung nur stumm g e nickt, denn eigentlich wollte sie ihn Harald nennen. Der junge Paul wusste bald, warum der Vater Wilhelm hieß und seine Ehre die Treue war. Denn zumindest Verdun hatte Wilhelm hinter sich. Und eine Pickelhaube im Schrank. Das Kaiserbild im Wohnzimmer. Die frühen Striemen von Züc h tigungen im Waisenhaus trug er auch noch. Jetzt mit Stolz. Auf Rücken und Hintern. Im Hirn. In der unwichtigen Wichtigkeit. Und Gott war sein Vater, Herr aller Schlachten. Doch, ja, der Name Wilhelm erfüllte ihn mit Stolz. Die Erinnerungen an schwul-perverse Handlungen im Waisenhaus weniger. Egal. Stolz, Zucht und Ordnung hatte er sich nach dem Annabe r ger Vorbild auf den Rohrstock geschrieben. Auf einen Prügel, den auch Paul tagtäglich wie das Essen gereicht bekam.
    „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst ...“, brüllte Wilhelm, mit deutscher Fahne oder ohne. Doppelkorn. Bier. Mit weißen Blasen an den Lippen, den Schaumkronen des Wütens einer Bestie. Die Mutter nic k te zu allem; war weiß und nüchtern wie Milch. Und das, bis Paul achtzehn war. Später gab Paul diese Art von Erziehung ohne schuldhaftes Zögern an seinen Sohn Alfred weiter, der sich ab irgendwann Pierre nannte. Den Schlägen entkam er trotz Namenwechsels nicht. Und ja, die Art des Schlagens war gleich der seines Vaters: innen auf den Unterarm, erst den einen, dann den anderen, und manchmal über den blanken Hintern, alles gleich, nur der Rohrstock war ein anderer. Verständlich, alles

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