Aufruhr in Oxford
zu lassen, dann hat sie vielleicht nicht mehr so viel dagegen, wenn ich die Mörderin der Gerechtigkeit ausliefere.»
Und wenn sie nun wirklich einmal eine blutbeschmierte Leiche in der Kantine finden würden, wie fassungslos wären sie alle! Es war doch der Stolz eines jeden College, daß sich in seinen Mauern nie etwas Dramatisches abspielte. Es passierte nie etwas Schlimmeres, als daß eine Studentin «auf Abwege» geriet. Daß ein Pförtner dann und wann ein Paket mopste, hatte bereits genügt, den ganzen Lehrkörper vor Entsetzen zu lähmen. Ach, die guten Leutchen: wie erfrischend, wie beruhigend, wie lieb sie alle waren, wenn sie unter den alten Buchen dahinwandelten und über όυ και μηόν und die Finanzen Königin Elizabeths meditierten.
«Ich habe das Eis gebrochen», sagte sie laut, «und das Wasser war doch gar nicht so kalt. Ich werde wieder hinfahren; von Zeit zu Zeit werde ich wieder hinfahren.»
Sie suchte sich zu Mittag ein gemütliches Gasthaus und aß mit gutem Appetit. Dann fiel ihr ein, daß ihr Zigarettenetui noch immer im Talarärmel steckte. Sie hatte dieses Kleidungsstück über den Arm gehängt mitgebracht, und so fuhr sie nun mit der Hand tief hinein in den langen Ärmel und holte das Etui heraus. Mit ihm kam ein Blatt Papier zum Vorschein – ein gewöhnliches, vierfach gefaltetes Blatt Schreibpapier. Mit gerunzelter Stirn ob einer unschönen Erinnerung faltete sie es auseinander.
Die Mitteilung auf dem Blatt setzte sich aus aufgeklebten, offenbar aus Zeitungsschlagzeilen ausgeschnittenen Buchstaben zusammen:
GEMEINE MÖRDERIN, SCHÄMST DU DICH NICHT,
DICH HIER ZU ZEIGEN?
«Pfui Teufel!» sagte Harriet. «Auch du, mein Oxford?» Sie saß ein paar Sekunden still da. Dann riß sie ein Streichholz an und hielt die Flamme ans Papier. Es brannte schnell hinunter, bis sie es auf ihren Teller fallen lassen mußte. Auch jetzt waren die Buchstaben noch auf der schwarzen Asche grau zu sehen, bis Harriet ihre gespenstischen Formen mit der Rückseite eines Löffels zu Pulver zerstampfte.
4. Kapitel
Du kannst mich, Lieb, nicht halb so tief entehren,
Erwünschtem Tausch zu geben Form und Halt,
Wie ich mich selbst, denn kennend dein Begehren,
Verleugn ich dich und blicke fremd und kalt;
Ich meide deinen Weg, und meinem Munde
Wird fremd dein Name, den ich so geliebt,
Damit er nicht, entweihend, frohe Kunde
Von altem Glück und alter Freundschaft gibt.
WILLIAM SHAKESPEARE
Es gibt Ereignisse im Leben eines Menschen, die durch zufälliges Zusammentreffen von Zeit und Stimmung symbolischen Wert erlangen. Harriets Besuch der Jahresfeier im Shrewsbury College war so ein Ereignis. Trotz geringfügiger Mißklänge und Ungereimtheiten hatte dieser Besuch sich in einem als sehr bedeutsam erwiesen: Er hatte ihr die Augen geöffnet für eine uralte Sehnsucht, die lange hinter einem Wald unbedeutender Phantasien verborgen gelegen hatte, jetzt aber unübersehbar aufragte wie ein Turm auf einem hohen Berg. Zwei Sätze klangen ihr noch in den Ohren, der Satz der Dekanin: «Das einzige, was wirklich zählt, ist die Arbeit, die Sie leisten», und dann die melancholische Klage über etwas unwiederbringlich Verlorenes: «Ich habe einmal zu dieser Gelehrtenwelt gehört.»
«Zeit ist», sprach der Bronzekopf, «Zeit war, Zeit ist vorbei.»
Philip Boyes war tot, und die Alpträume, die im gespenstischen Dunkel seines Todes ihr Unwesen getrieben hatten, verblaßten mehr und mehr. Indem sie sich blind an ihre Arbeit geklammert hatte, war es ihr gelungen, zu einem unstabilen Gleichgewicht zu finden. War es nun zu spät, das klare Auge und den ungetrübten Geist vollends wiederzugewinnen? Und was täte sie in diesem Falle mit der einen starken Fessel, die sie noch immer unlösbar an ihre bittere Vergangenheit kettete? Was wäre mit Peter Wimsey?
In den letzten drei Jahren war ihre Beziehung von eigentümlicher Art gewesen. Gleich nach dieser scheußlichen Geschichte, die sie in Wilvercombe gemeinsam aufgeklärt hatten, war Harriet der Ansicht gewesen, sie müsse endlich etwas zur Bereinigung der immer unerträglicher werdenden Situation tun, und hatte sich einen langgehegten, mit ihrem zunehmenden schriftstellerischen Ruhm und Einkommen jetzt auch realisierbaren Wunsch erfüllt. Sie hatte mit einer Freundin, die sie als Gesellschafterin und Sekretärin mitnahm, England verlassen und war gemächlich durch ganz Europa gereist, da und dort verweilend, wie es ihr gerade in den Sinn kam oder wo sich ihr
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