Auge um Auge (German Edition)
Straße wird es dunkel. Mir wird klar, dass ich mich vermutlich wie eine dieser dämlichen Touristinnen anhöre, die sich einbilden, für sie und ihr Geld würden Ladenöffnungszeiten nicht gelten. Dass ich wirke wie eine von diesen Snobs, die sich für was Besseres halten. Mit denen habe ich jeden Tag auf der Marina zu tun. Also werfe ich meine erst halb gerauchte Zigarette auf den Bürgersteig, schiebe meine Hände tief in die Taschen, damit meine Shorts aus abgeschnittenen Jeans mir auf die Hüften rutschen, und rufe verzweifelt: »Bitte! Ich bin von hier!«
Er dreht sich um und sieht mich sauer an, so als wäre ich eine furchtbare Nervensäge, doch auf einmal entspannen sich seine Gesichtszüge. »Kat DeBrassio?«
»Ja?« Ich kneife die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, wo ich ihn hinstecken soll.
Der Typ dreht den Schlüssel wieder um und macht die Tür auf. »Ich bin früher immer mit deinem Bruder Dirt Bike gefahren.« Er hält mir die Tür auf. »Vorsicht, der Boden ist nass. Und sag Pat einen schönen Gruß.«
Ich nicke und gehe in meinen Motorradstiefeln auf Zehenspitzen an einem anderen Angestellten vorbei, der einen Wischmopp auf und ab bewegt. Ich wuchte meine Tasche auf den Tresen, während der andere Typ mir meinen Kaffee macht. In dem Moment merke ich, dass das Java Jones nicht komplett leer ist. Wenigstens ein weiterer Gast ist noch da: An einem der Tische ganz hinten sitzt ganz allein Alex Lind und beugt sich über ein kleines Notizbuch. Vermutlich sein Tagebuch oder so. Ich hab schon öfter beobachtet, dass er heimlich was schreibt, wenn er denkt, keiner kriegt’s mit. Gezeigt hat er es mir noch nie. Wahrscheinlich denkt er, ich würde mich drüber lustig machen.
Würde ich vermutlich ja auch. Selbst wenn wir in den letzten Wochen viel zusammen waren, heißt das ja nicht, dass wir echte Freunde sind.
Ich hab nicht vor, ihn zu stören. Ich will einfach nur meinen Kaffee trinken und schnell wieder gehen. Doch dann stockt sein Stift mitten auf der Seite. Alex beißt sich auf die Unterlippe, schließt die Augen und denkt kurz nach. Wie ein kleiner Junge, der sich auf sein Abendgebet konzentriert, sieht er aus, so süß und verletzlich.
Ich werd’ ihn vermissen, den Kerl.
Schnell fahre ich mir mit den Fingern durch den Pony und rufe: »Yo, Lind.«
Überrascht schlägt er die Augen auf. Dann schiebt er schnell sein Notizbuch in die hintere Hosentasche und kommt langsam zu mir rüber. »Hey, Kat. Was hast du vor?«
Ich verdrehe die Augen und sage: »Ich will zu Kim, mir diese Gruppe anhören. Schon vergessen?« Es ist noch nicht mal fünf Stunden her, seit ich ihm das erzählt habe – als er während meiner Mittagspause auf der Marina vorbeikam.
So hatte es auch angefangen, dass wir uns öfter trafen: Wir hatten uns im Juni im Yachtclub kennengelernt. Das heißt, ich wusste schon vorher, wer er war, logisch, unsere High School ist ja nicht so groß. Aber geredet hatten wir nie miteinander, höchstens ein- oder zweimal in Kunst letztes Schuljahr. Wir gehören zu völlig verschiedenen Cliquen.
Eines Tages kam Alex mit einem neuen Rennboot vorbei. Als er wieder loswollte, würgte er den Motor ab. Ich sagte ihm, er solle mich mal ranlassen, und gab ihm vom Fahrersitz aus eine kurze Einführung. Alex war beeindruckt, wie gut ich sein Boot im Griff hatte. Wenn ich richtig auf die Tube drückte, krallte er sich so fest an den Sitz, dass seine Knöchel weiß wurden. Irgendwie niedlich.
Ich hatte gehofft, er würde heute dableiben, solange ich noch Schicht hatte, weil mir dann nicht so langweilig gewesen wäre. Und weil ich wusste, dass er am nächsten Tag zum Fischen aufbrechen würde. Aber er ist wieder gegangen, weil er mit seinen Freunden am Strand verabredet war. Seinen richtigen Freunden.
»Ach ja«, sagt Alex, »stimmt.« Er beugt sich vor und stützt den Ellbogen auf den Tresen. »Hey – sag Kim noch mal schönen Dank von mir, dass sie mich neulich hat übernachten lassen, ja?«
Im Juli hatte ich Alex mitgenommen, als Army of None im Plattenladen auftraten. Er hatte noch nie von denen gehört, bevor wir uns näher kennenlernten, und jetzt sind sie seine Lieblingsgruppe.
Alex kam in Cargo-Shorts, einem Polohemd mit dem Logo vom Jar Island Country Club und mit Flipflops an den Füßen – das war mir echt unangenehm.
Als wir hereinkamen, musterte Kim seinen unmöglichen Aufzug und warf mir dann einen fragenden Blick
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