Auge um Auge (German Edition)
zum Auto. Natürlich kann ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass es Nadia ist. Ich meine, ich dachte, sie wär’s, aber andererseits – Lillia lügt nicht. Lillia Cho mag so einiges sein, aber in all den Jahren, seit ich sie kenne, hat sie nie gelogen. Also ist das vermutlich doch nicht Nadia in Alex’ Auto, sondern einfach irgendein dunkelhaariges Mädchen. Jedenfalls nicht ich.
Ich sitze in Dads altem Golf Cabrio. Alle Fenster sind unten, und die Musik dröhnt so laut, dass ich meine eigenen Gedanken nicht hören kann, was so ziemlich der Sinn der Sache ist.
Ich mache eine Spritztour um die Insel, erst zum Leuchtturm auf der Anhöhe, dann am großen Friedhof mit den gruseligen Familiengräbern vorbei, hinüber zur einzigen Landebahn unseres Flughafens und zu guter Letzt an der Marina entlang, bis ich wieder am Leuchtturm ankomme. Sonst gibt es auch nichts, wo ich hinkönnte. Die letzte Fähre hat den Hafen schon vor Stunden verlassen, sonst würde ich doch noch bei Kim reinschneien, auch ohne Einladung. Aber ich sitze hier auf dieser verdammten Insel fest, also fahre ich dieselbe Runde immer und immer wieder.
Wieso bin ich überhaupt überrascht? Wer immer dieses Mädel ist – sie spuckt garantiert nie jemandem ins Gesicht, und sie braucht auch nicht so einen beknackten Job, von dem man nach Fisch stinkt, bloß um das Geld fürs College zusammenzukratzen. Und garantiert bezeichnet kein Mensch sie oder ihre Familie als asoziales Gesocks. Ich hatte gedacht, es sei mir im Laufe des Sommers gelungen, Alex’ Meinung über mich zu ändern. Selber schuld, wenn ich mir eingebildet habe, er sei anders. Ist er nämlich nicht. Er ist genauso mies wie die anderen. Er hat Rennies Lügen genauso gekauft wie alle anderen in diesem blöden Kaff.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es schon nach Mitternacht und der Benzintank nur noch ein Viertel voll. Dad bringt mich um, wenn sein Wagen schon wieder auf Reserve steht, nachdem ich damit unterwegs war.
Wir haben nur wenige Tankstellen auf der Insel, und ich fahre zu der billigsten. Sie ist gleich neben dem Bow Tie, diesem kitschigen italienischen Restaurant in Canobie Bluffs, das bei Touristen so beliebt ist.
Während ich tanke, schaue ich hinüber zum Parkplatz, und da sehe ich sie – Reeve und Rennie und PJ und Ashlin, diese Schleimerin. Von Lillia keine Spur. Sie ist also wirklich zu Hause mit Nadia. Ihre Clique steht drüben bei den Müllcontainern. Rennie sitzt auf der Motorhaube von Reeves Pick-up, sie lassen eine Flasche Wein kreisen.
Alex hat mir erzählt, wie das läuft: Rennie jobbt im Bow Tie als Kellnerin, sie flirtet mit den Typen hinter der Bar und kriegt von ihnen Alkohol umsonst. Den bringt sie zusammen mit dem Müll raus, und wenn das Restaurant geschlossen hat und die Angestellten gegangen sind, kommt sie mit ihren bescheuerten Freunden zurück, und dann saufen sie die ganze Nacht.
Ich sollte die Polizei anrufen. Ich sollte, aber ich tu’s nicht. Ich bin doch kein Drogenfahnder. Aber so laut, wie sie sind, erledigt das hoffentlich jemand anders. Von hier, wo ich stehe, kriege ich jedes Wort mit.
Zwei Scheinwerfer nähern sich auf der Straße. Reeve zieht Rennie runter von der Motorhaube, und alle kauern sich hinters Auto, bis PJ auf einmal brüllt: »Alex!« Die ganze Gruppe rennt auf die Straße und stoppt ihn.
»Nadi!«, kreischt Rennie und rennt ums Auto rum zur Beifahrerseite. »Solltest du nicht längst im Bett liegen?«
Ich wusste es! Es war wirklich Nadia.
Alle reden kurz, dann drückt Alex ein paarmal auf die Hupe, damit seine Freunde ihm den Weg freimachen. Ich nehme an, er hat’s eilig, Nadia nach Hause zu bringen. Es ist immerhin schon nach Mitternacht, morgen ist Schule, und Mrs. Cho würde Nadia umbringen, wenn sie wüsste, dass sie sich nachts aus dem Haus schleicht. Ich fand Mrs. Cho immer richtig cool, aber sie ist auch streng. Einmal musste Lillia eine geschlagene Stunde in ihrem Zimmer bleiben, während Rennie und ich in ihrem Pool schwimmen durften, und das nur, weil Lillia ihrer Mutter angeblich eine freche Antwort gegeben hatte.
Als Alex losfährt, entdeckt mich Rennie und zeigt herüber. »Tut mir leid, Kat, ich glaube, Tankstellen nehmen keine Lebensmittelmarken!«, ruft sie herüber.
Ich tue so, als hätte ich nichts gehört. Noch einmal kann ich mich heute nicht mit ihr einlassen.
Reeve johlt. »Oh-oh, Kat, das lässt du dir doch wohl nicht bieten von Rennie, oder? Komm schon, zeig, was
Weitere Kostenlose Bücher