Geliebte Schwindlerin
1
1898
„Haben Sie alle Schulden begleichen können, Mr. Mercer?“ fragte Minella Clinton-Wood den älteren Herrn, der ihr gegenübersaß.
Er zögerte mit der Antwort. „Der Verkauf des Herrenhauses, der Möbel, des Pferdes und der noch verbliebenen Ländereien brachte genügend ein, um nahezu alle Schulden zu tilgen, Miß Minella.“
„Wieviel steht noch offen?“
„Etwa einhundertfünfzig Pfund“, erklärte Mr. Mercer von der Anwaltskanzlei Mercer, Conway und Mercer.
Minella sog geräuschvoll den Atem ein, und er fuhr wie zu ihrer Beruhigung fort: „Ich habe von mir aus dafür gesorgt, daß hundert Pfund zu Ihrer Verfügung bleiben.“
„Warum haben Sie das getan?“
„Weil ich nicht verantworten kann, daß Sie völlig mittellos dastehen“, entgegnete Mr. Mercer. „Sie können nicht von der Luft leben und wissen ja noch nicht einmal, bei welchen Verwandten Sie in Zukunft aufgenommen werden.“
Minellas bekümmerter Gesichtsausdruck verriet, daß sie sich darüber auch Sorgen machte.
„Sie wissen ja selbst, in welch mißlicher Lage ich mich befinde, Mr. Mercer. Papa hatte nicht viele Verwandte, und Mamas Familie, die in Irland lebt, habe ich nie kennengelernt.“
„Was ist mit Lady Banton, Ihrer Tante in Bath?“ fragte Mr. Mercer. „Bei ihr könnten Sie sicher unterkommen.“
Minella seufzte. „Vermutlich bleibt mir gar nichts anderes übrig, wenn ich keine Anstellung finde.“
Mr. Mercer sah das junge Mädchen mitleidig an. Er hatte Lord Heywoods verwitwete Schwester, die erheblich älter war als er selbst, einmal kennengelernt. Sie gehörte zu den ewig kränkelnden und nörgelnden Menschen, die sich vom Schicksal vernachlässigt fühlten und an allem etwas auszusetzen hatten.
Er erinnerte sich, damals zu seiner Frau gesagt zu haben: „Lady Banton hat wohl noch nie in ihrem Leben etwas Nettes über einen anderen Menschen geäußert.“
„Sie hadert mit ihrem Schicksal“, hatte seine Frau erwidert. „Das beginnt schon damit, daß sie grundhäßlich ist.“
Damals hatte Mr. Mercer über die trockene Feststellung seiner Frau gelacht, doch als er sich jetzt vorstellte, wie die zarte Schönheit Minellas auf ihre Tante wirken würde, kamen ihm doch ernsthafte Bedenken.
Er beugte sich über den soliden alten Schreibtisch, der ebenfalls bereits unter den Hammer gekommen war, um die Schulden des verstorbenen Gutsbesitzers zu tilgen.
„Sicher gibt es auch noch andere Menschen, an die Sie sich wenden können, oder? Was ist mit Ihrer reizenden Cousine, die vor Jahren zu Besuch hier weilte und bei Jagdgesellschaften die Rolle der Gastgeberin übernahm?“
„Cousine Elizabeth meinen Sie? Die ist verheiratet und hält sich mit ihrem Mann in Indien auf. Da sie mir nicht kondoliert hat, vermute ich, daß sie gar nichts von Papas Tod weiß.“
„Könnten Sie nicht zu ihr ziehen?“
Minella schüttelte den Kopf. „Sie hätte sicher etwas dagegen, wenn ich ihr in Indien zur Last fiele. Außerdem wissen Sie selbst am besten, daß ich mir eine solche Reise gar nicht leisten könnte, Mr. Mercer.“
Insgeheim mußte er ihr recht geben. Die hundert Pfund, die er für sie abgezweigt hatte, würden nicht ewig reichen.
Er war jedoch zutiefst um das Wohlergehen des Mädchens besorgt, das er von Kind auf kannte und das von Jahr zu Jahr liebreizender wurde, ohne daß es jemand in der abgelegenen, langweiligen Grafschaft Huntingdonshire gewürdigt hätte.
„Wie oft hatte Lord Heywood beklagt, daß es ihn in diese Gegend verschlagen hatte! Warum sich meine Ahnen ausgerechnet in diesem öden Nest niedergelassen haben, weiß der liebe Herrgott“, pflegte er zu sagen. „Ich kann mir nur vorstellen, daß es das schöne Haus war, das sie reizte. Sonst gibt es hier doch wirklich nichts.“
Tatsächlich war das aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende Herrenhaus sehr hübsch und nach Lady Heywoods Ansicht auch leicht in Ordnung zu halten.
Den anspruchsvollen Freunden Lord Heywoods, mit denen er sich so gern umgab, hatte Huntingdonshire jedoch nichts zu bieten, was sie hätte anlocken können, außer seiner Person.
Zweifellos war Roy Heywood dazu ausersehen, stets im Mittelpunkt zu stehen und von Bewunderern umringt zu sein. Seine Lebenslust und sein Charme machten ihn unwiderstehlich.
Minella überraschte es daher nicht, daß ihr Vater nach dem Tode ihrer Mutter ständig zu Parties in alle Gegenden des Landes eingeladen wurde, nur nicht in ihre nähere Umgebung. Landedelleute pflegten
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