Auge um Auge (German Edition)
aufgemacht und seine Krawatte gelockert. Er tanzt wie ein Wilder, hüpft wie aufgedreht herum. Ich kann aber nicht sagen, ob das nun die Wirkung des Ecstasy oder nur eine klassische Reeve-Nummer ist.
Mary und ich werfen uns einen Blick zu.
Als Reeve allerdings mit einer Breakdance-Einlage beginnt, weiß ich sicher, dass es das Ecstasy ist. Von Breakdance hat Reeve nämlich absolut keinen Schimmer. Ich muss lachen, und noch mehr muss ich lachen, als ich sehe, wie Rennie versucht, zu ihm zu gelangen. Als sie sich bis zu ihm durchgeboxt hat, tanzt sie ihn an, allerdings zu sexy für Reeves wilde, ruckartige Bewegungen. Die Sache geht völlig daneben. Einmal haut er ihr sogar fast den Arm ins Gesicht. Rennie packt ihn an der Krawatte und zieht ihn näher zu sich, doch er nimmt das Ding kurzerhand ab und wickelt es sich um die Stirn. Die Krawatte baumelt hin und her, während Reeve von Rennie wegtanzt und sich Mrs. Dumfee schnappt, die bei uns Chemie unterrichtet und ungefähr hundert sein dürfte. Sie versucht zu protestieren, doch er legt sich ihre Arme um den Hals und hüpft dabei weiter auf und ab. Und die alte Hexe macht sogar mit. So viel Action hat sie vermutlich in dreißig Jahren oder so nicht mehr erlebt.
Der DJ fängt an, Requisiten in die Menge zu werfen, Federboas und Strandbälle und so kitschiges Zeug. Reeve läuft zum DJ -Tisch, schnappt sich ein Paar Maracas und galoppiert wie ein Zirkuspferd rings um die Tanzfläche, dabei schüttelt er die Rasseln über seinem Kopf. So wild, dass ich fast fürchte, sie brechen auseinander und alle Samenkörner landen am Boden.
Reeves Freunde, Alex und PJ und die anderen, krümmen sich vor Lachen. Aber als ich Mary anschaue, sieht sie ziemlich erschrocken aus.
»Er macht sich so zum Affen«, sagt sie traurig.
Ich weiß selbst nicht, wieso, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass uns die Dinge entgleiten.
»Wann rafft denn endlich mal jemand, was mit ihm los ist? Vielleicht solltest du jetzt zu Señor Tremont gehen.«
Doch im nächsten Moment bricht die Musik plötzlich ab, die Lichter gehen an. Coach Christy steht auf der Bühne in einem roten Kleid. Es ist komisch, sie so gestylt zu sehen, sonst kennt man sie nur in kurzen Sporthosen und mit Sonnenvisier. Sie beugt sich vor und sagt ins Mikrofon: »Darf ich jetzt den Homecoming-Court von Jar Island auf die Bühne bitten?«
Nacheinander gehen sie hinauf. Rennie klammert sich an Reeve, als könnte sie kaum laufen auf ihren 13 -cm-Stripperschuhen. Ihr selbstzufriedenes Lächeln verrät, wie siegessicher sie ist. Sie nimmt Reeve die Krawatte vom Kopf, legt sie ihm wieder um den Hals und zieht sie enger. Natürlich will Rennie, dass sie beide perfekt aussehen, wenn sie als Sieger da oben stehen.
Ich recke mich ein Stück. Dies ist mein großer Augenblick. Ich sollte ihn auch auskosten.
Coach Christy stellt alle vor, die jetzt auf der Bühne stehen, dann öffnet sie schwungvoll den cremefarbenen Umschlag in ihrer Hand. »Homecoming-King der Jar Island High School ist ... Reeve Tabatsky!«
Alles schreit und klatscht und stampft mit den Füßen, als wäre das eine riesige Überraschung. Coach Christy setzt ihm die Krone auf, und er zieht sofort eine Riesenshow ab, tanzt herum und bewegt die Hände, als wäre er bei einem Rave und hielte Wunderkerzen in der Hand. Dann umarmt er die Trainerin heftig und hebt sie hoch. Coach Christy guckt entgeistert, macht sich los und streicht ihr Kleid glatt. Schnell sagt sie: »Und deine Homecoming-Queen ist ... Lillia Cho!«
O verdammt.
Ich traue mich gar nicht, Mary anzusehen, schließlich habe ich doch behauptet, alles sei in Ordnung, Ashlin habe genug Stimmen für den Sieg. Ehrlich gesagt bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, Lillias Stimmen zu zählen. Ich hatte zwar gesehen, dass eine Menge Stimmen für sie dabei waren, aber sie hatte gemeint, sie würde nur unter »ferner liefen« rangieren, also habe ich mich um sie gar nicht gekümmert. Mist!
Aber vielleicht kommt ja doch noch alles irgendwie in Ordnung. Rennie hat verloren, und Reeve ist high wie sonst was. Es kann noch klappen.
Rennie steht mit offenem Mund auf der Bühne. Sie sieht nicht einmal wütend aus, nur verwirrt. So als könnte es sich nur um einen Irrtum handeln. Und die arme Lillia guckt benommen wie ein junges Reh ins Publikum, während Coach Christy ihr das Diadem aufsetzt.
Reeve sprintet zu ihr, packt sie und wirft sie in die Luft.
»Scheiße«, sage ich.
36 LILLIA Ich doch nicht! So war das
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