Auge um Auge
dir ja noch gar nicht erzählt, was gestern Abend am Bow Tie passiert ist.«
Also doch. Endlich. »Was?«
»Reeve und ich haben uns geküsst! Ich meine, nur eine Sekunde lang. Er hat gemeint, ich sei ihm zu wichtig für so eine beliebige Knutscherei. Ist das nicht das Süßeste, was man je gehört hat? Ich sag dir, es fehlt nur noch sooo viel, und wir sind offiziell zusammen.« Sie wirbelt herum, ganz so, als hätte sie schon ihr Brautkleid an.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Ihr beide seid wie geschaffen füreinander. Ehrlich.«
Nach dem Essen höre ich, dass Nadia im kleinen Wohnzimmer beim Fernsehen sitzt, aber ich gehe nicht zu ihr. Ich konnte es schon beim Essen kaum ertragen, sie über den Küchentisch hinweg anzusehen. Also gehe ich direkt hoch in mein Zimmer, lege mich aufs Bett und überlege, was ich machen soll, nachdem es keinen Menschen mehr gibt, dem ich trauen kann.
Mein Handy summt, und ich nehme es vom Nachttisch. Eine SMS von einer unbekannten Nummer.
HIER KARMA, DAS BIEST. FÄLLT
DIR JEMAND EIN, DER EINEN
BIESTIGEN SCHLAG VERDIENT
HAT?
O ja, allerdings. Mehr als einer.
Mein Handy summt noch mal.
FALLS JA, TREFFEN BEI JUDY BLUE
EYES HEUTE NACHT UM 2. FALLS
NEIN – LEHN DICH ZURÜCK UND
VIEL SPASS!
Judy Blue Eyes – so hatte Kat immer ihr Boot nennen wollen, sollte sie je eins besitzen. Nach ihrer Mom. Blue Eyes war Judys Lieblingslied.
12 MARY Ich war’s nicht. Das kann gar nicht sein.
Was auch immer in der Schule gewesen ist, was auch immer da war – ich will nicht einmal darüber nachdenken. Ich will nur raus hier. Weg von der Insel, weg von Reeve und von allem, was mich an ihn erinnert und an die, die ich einmal war.
Als ich nach Hause komme, steht Tante Bettes Volvo in der Einfahrt. Ich lege mein Rad leise auf dem Rasen im Vorgarten ab und gehe zurück zur Straße. Vergesse meine Kleider und alles andere, Tante Bette kann mir die Sachen später schicken. Ich weiß nur, dass ich die nächste Fähre erwischen muss, die die Insel verlässt.
Auf dem Bürgersteig drehe ich mich um und sehe noch einmal zum Haus hinüber. Ich versuche mir den exakten Grauton der Zedernholzschindeln einzuprägen – er erinnert an die Farbe des Himmels direkt vor einem Gewitter. Ich zähle die weißen Fensterläden, die rechts und links von jedem Fenster angebracht sind. Zwölf sind es. Mit den Fingern ziehe ich in der Luft die Windungen des Kopfsteinweges nach. Ich muss mir das alles einprägen, denn es ist das letzte Mal, dass ich dieses Haus sehe. Ich werde nie mehr hierher zurückkehren. Niemals.
Dann hole ich tief Luft und mache mich auf den Weg die Straße hinunter zur Fähre. Es war verrückt von mir zu glauben, Reeve würde sich jemals bei mir für all die schrecklichen Dinge, die er mir angetan hat, entschuldigen. Immer hatte ich gehofft, dass ich ihm tief in seinem Inneren nicht gleichgültig sei. Dass trotz allem irgendein Band zwischen uns existiert. Dass ich ihm etwas bedeute. Dass ihm leidtut, was er getan hat.
Ich weiß jetzt, weiß jetzt ganz sicher, dass ich mich getäuscht habe. Er wird sich nie bei mir entschuldigen oder auch nur zugeben, was er damals gemacht hat.
Also gibt es auch keinen Grund für mich zu bleiben.
Als ich an die Anlegestelle komme, klopft mir das Herz laut in der Brust. Ich atme so schwer, dass ich kaum sprechen kann, deshalb warte ich erst einmal seitlich vom Fahrkartenkiosk, bis ich wieder Luft bekomme. Vom Ufer aus sehe ich zu, wie ein Schiff anlegt und die Fahrgäste an Bord gehen.
Eine Frau nimmt meinen Platz in der Schlange ein. Sie will eine Fahrkarte kaufen, doch die Tickets für die Vier-Uhr-Fähre sind bereits ausgebucht. Frühestens die um sechs Uhr könne sie nehmen, heißt es.
Es wird dunkler. Immer mehr Menschen stellen sich an, um Karten zu kaufen, doch ich rühre mich nicht von der Stelle. Ich stehe nur da und sehe zu und warte. Ich will mich ja wieder anstellen und mir meine Fahrkarte kaufen. So sehr will ich es. Alles in mir schreit Geh, geh, geh. Aber ich kann nicht. Etwas hält mich zurück. Etwas hält mich hier.
Was geschieht da gerade mit mir?
13 KAT Der Himmel ist nachtschwarz. Ich fahre mit offenem Verdeck in Dads Cabrio. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt Viertel vor zwei.
Ich checke ein letztes Mal mein Handy, bevor ich es auf den Rücksitz werfe. Kein Anruf, keine SMS . Nichts. Sie kommt nicht.
Wieso bin ich eigentlich so blöd?
Ich hätte diesen ganzen Rachegedanken für mich behalten sollen. Rache ist doch
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