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Auge um Auge

Auge um Auge

Titel: Auge um Auge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Vivian , Jenny Han
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offenbar auf dem Platz vergessen hatte. Als sie uns zusammen sahen, blieb ihnen der Mund offen stehen. Reeve und Big Easy Seite an Seite? Das konnte irgendwie nicht sein.
    Reeve sagte nichts, beschleunigte nur plötzlich seinen Schritt. Ich ging auch schneller, um mitzukommen. Die Jungs brüllten: »Hey, Reeve, du hast was vergessen!«, aber Reeve tat so, als hörte er sie nicht. Die letzten Meter zur Fähre sprintete er regelrecht, so als hätte er Angst, sie zu verpassen.
    Personenwagen und LKW s waren schon aufs Autodeck gefahren, nur die Fußgänger standen noch an, um über die Holzplanken die Fähre zu betreten. Reeve und ich stellten uns hinten an, erst er, dann ich. Die Jungen aus unserer Klasse kamen nun auch an und blieben seitlich stehen. Sie hielten Reeve das Schreibheft hin, er murmelte einen Dank, und sie gingen wieder.
    Ich weiß nicht, woher ich auf einmal diesen Mut nahm. Vielleicht, weil es in letzter Zeit gut gelaufen war zwischen uns. Vielleicht auch, weil ich Reeve zwingen wollte, Farbe zu bekennen. Oder vielleicht, weil ich aus unseren Gesprächen wusste, dass es ihm im Grunde egal war, was diese Jungs von ihm dachten.
    Eins jedenfalls wusste ich ganz sicher: Reeve hat mit dieser Big-Easy-Sache angefangen, und der Name hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Wenn er jetzt den anderen in unserer Klasse zeigte, dass zwischen uns alles okay war, dann konnte er die Sache auch genauso schnell wieder beenden. So wichtig war er.
    Ich trat einen Schritt vor, sodass ich neben Reeve stand, und rief den Jungen, so laut ich konnte, nach: »Na und? Wir sind Freunde!« Dann legte ich einen Arm um Reeve und lächelte ihn an.
    Reeve starrte mich ungläubig an. Doch schon im nächsten Augenblick überkam ihn die Wut. »Lass verdammt noch mal die Finger von mir!« Und dann ging er auf mich los. Mit beiden Handflächen zielte er auf meine Brust und stieß mich mit aller Kraft in Richtung der Jungen.
    Der Stoß hatte eine ungeheure Wucht. Ich hatte keine Chance. Die Sohlen meiner Turnschuhe rutschten über den Kies. Die Jungs beeilten sich, aus dem Weg zu gehen, und das Ende der Anlegestelle wurde sichtbar. Ich versuchte, mich einfach fallen zu lassen, um nicht im Wasser zu landen, doch ich flog immer weiter. Im letzten Moment streckte ich die Arme aus, um vielleicht noch zu verhindern, seitlich über den Rand des Anlegers zu fallen. Lauter kleine Splitter gruben sich mir in die Handflächen. Vor Schmerz schnappte ich nach Luft, und das war mein letzter Atemzug, bevor ich ins Wasser stürzte.
    Es war so kalt, dass ich mich kaum bewegen konnte. Obwohl das Wasser so eisig war, brannten meine Hände, daran merkte ich, dass sie bluteten. Über mir hörte ich das grölende Gelächter der Jungen.
    »Yo, die sieht aus wie eine Seekuh!«
    »He, Seekuh, brauchst du ein Netz?«
    »Schwimm doch! Schwimm an Land, Seekuh!«
    Mit Armen und Beinen strampelnd, versuchte ich hochzukommen. Aber meine Kleider wogen Tonnen, und ich bekam kaum den Kopf über Wasser. Ich schnappte nach Luft und schluckte immer wieder große Mengen Salzwasser.
    Die Fährarbeiter kamen angerannt, und einer warf mir einen Rettungsring zu. Nur zu zweit schafften sie es, mich aus dem Wasser zu ziehen. Sämtliche Passagiere lehnten über der Reling und sahen zu.
    Sobald ich an Land war, erbrach ich literweise Salzwasser. Erst da hörten die Jungen auf zu lachen und wandten sich von dem Schauspiel ab. Von Reeve war nichts zu sehen.
    Meine Hände bluteten, meine Kleider waren klatschnass und steif und voller Schotter, an meinen Schuhen klebte Erbrochenes. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass mein weißes T-Shirt durch die Nässe total durchsichtig war und an jeder einzelnen meiner Speckrollen klebte. Ich zitterte, aber nicht vor Kälte. Ich war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Und dann passierte es auch schon. Ich fing an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören.
    Einer der Arbeiter half mir an Bord und ging dann, um mir eine Decke zu besorgen. Als er zurückkam, brachte er mir einen Stapel brauner Papiertücher aus einem der Spender im Bad. Ich versuchte mich damit trocken zu reiben, doch sobald sie nass wurden, lösten sie sich in einzelne Fasern auf.
    Und die ganze Zeit schluchzte ich immer weiter.
    Reeve war auch an Bord. Er saß in der ersten Reihe bei den Fenstern, auf dem Sitz, in den er von unten seinen Namen geritzt hatte. Den Blick hielt er stur auf Jar Island gerichtet. Er tat so, als gingen ich und das, was geschehen war, ihn nichts

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