Auge um Auge
in Schnellfeuermanier. »Das hat er dir so ins Gesicht gesagt – Big Easy? Und du hast das zugelassen?« Sie ist jetzt auf hundertachtzig, kniet sich hin und beugt sich weit vor.
Es fällt mir schwer, sie anzusehen. »Es war anders, wenn wir auf der Fähre waren, nur wir zwei. Dann klang es aus irgendeinem Grund nicht so gemein.« Ich ziehe den Pullover enger um mich. »Aber sobald wir auf dem Festland waren, war alles anders. Vor den anderen hat er nicht mehr mit mir geredet. Außer ... um sich über mich lustig zu machen.«
»Was für ein verlogenes Miststück!«, sagt Kat. »Der ist ja schlimmer als Rennie!« Sie drückt ihre Zigarette in den Boden und zündet sich sofort die nächste an.
Lillia sieht mich starr an. »Warum hast du ihm das durchgehen lassen, Mary?«
»Weil er mir Sachen von sich erzählt hat«, sage ich. »Er beklagte sich immer über seinen Vater, der wohl ein ziemlich schlimmer Alkoholiker war. Reeve hat mir erzählt, wie der Vater seine Söhne angebrüllt hat, wenn er getrunken hatte. Er tat mir so leid.«
»Er tat dir leid ?«, wiederholt Kat ungläubig.
»Er hasste seinen Dad. Sein Traum war es, ein Stipendium für eine große Uni zu kriegen und nie mehr zurückzukommen nach Jar Island.«
Lillia schnaubt verächtlich. »Stipendium? Reeve hat doch nur Bs und Cs! Nur in Sport kriegt er ein A.«
Kat schüttelt den Kopf. »Du kannst das nicht wissen, weil du nicht hier aufgewachsen bist«, sagt sie zu Lillia. »Reeve war immer das schlaueste Kind in unserer Klasse. Ich weiß noch, wie es war, als er das Stipendium bekam, um auf diese tolle Schule zu gehen. Das war eine große Sache, weil seine Familie sich das sonst gar nicht hätte leisten können. Unsere Lehrerin hat extra eine Abschiedsparty mit Kuchen für ihn organisiert.«
»Es war nicht so, als hätte ich ihm irgendwas bedeutet oder so«, erkläre ich. »Wir haben einfach nur die Überfahrt miteinander verbracht. Ich wusste, wie die anderen sich auf den Kopf stellten, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Alle waren sie ein bisschen verliebt in ihn. Ich vermute, ich war auf verquere Weise ein bisschen stolz darauf, dass ich jeden Tag Zeit mit ihm verbringen konnte.«
Lillia knurrt etwas, aber Kat sagt: »Lil, du musst zugeben, dass Reeve verdammt charmant sein kann, wenn er will.«
»Okay«, räumt Lillia ein, »kann sein.«
Ich schaue starr auf den Boden und sage beschämt: »Ich hab mir selbst eingeredet, dass da wirklich etwas zwischen uns war, dass ich Reeve auf eine Weise kannte wie niemand sonst. Aber in Wirklichkeit hat der Reeve, den ich zu kennen glaubte, nie existiert. Er hat mir etwas vorgemacht, mich mit Tricks dazu gebracht, aus der Deckung zu kommen, damit er mich am Ende nur umso mehr verletzen konnte.«
Ohne dass ich es gemerkt habe, sind mir die Tränen gekommen. Vermutlich weil ich weiß, was als Nächstes kommt. Die Geschichte, die ich noch nie jemandem erzählt habe.
Plötzlich frischt der Wind auf, es fühlt sich an, als würde gleich ein Sturm den Himmel über uns aufreißen. Die Haare werden mir ins Gesicht gepeitscht. Lillia zieht den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, Kat schiebt die Hände in die Ärmel. Aber keine von ihnen macht Anstalten zu gehen.
Eine innere Stimme warnt mich davor, weiterzusprechen, denn wenn ich es Kat und Lillia erst einmal erzählt habe, gibt es kein Zurück mehr, dann kann ich mir nicht länger vormachen, es sei nie passiert. Aber ich schlucke die Angst hinunter und mache weiter, denn auf einmal kommt es mir so vor, als würde es mich umbringen, mein Geheimnis auch nur eine Sekunde länger zu bewahren.
···
Ich hatte nicht damit gerechnet, Reeve an dem Nachmittag zu treffen. Ms. Penske hatte ein paar von uns gebeten, nach dem Unterricht noch zu bleiben, um über die Wand in der Sporthalle zu reden, die von einigen Schülern bemalt werden sollte. Die Drei-Uhr-Fähre hatte ich verpasst, aber die um halb vier könnte ich noch schaffen, dachte ich. Doch auch Reeve war an dem Tag länger geblieben, weil er noch mit Freunden Basketball gespielt hatte. Als ich am Zaun vorbeilief, versenkte Reeve gerade seinen letzten Ball im Korb, anschließend nahmen alle ihre Bücher und zogen sich ihre Jacken an.
Reeve sah mich.
Ich ging weiter in Richtung Wasser, aber langsamer als vorher, und irgendwann holte er mich ein.
Wir waren schon fast an der Anlegestelle, als ein paar der Jungs, mit denen er gespielt hatte, hinter uns herkamen. Sie hatten ein Schreibheft dabei, das Reeve
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