Auge um Auge
Pling an meinem Fenster unterbricht die Stille. Ich hebe den Kopf vom Kissen und starre atemlos auf die Scheibe. Es passiert wieder, dieses Mal vor meinen Augen. Ein Steinchen prallt am Glas ab.
Ich stehe auf und gehe ängstlich ans Fenster. Vorsichtig spähe ich an den weißen Gardinen vorbei.
Von unten winken mir Lillia und Kat zu.
Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung trete ich aus meinem Versteck und winke zurück.
»Komm spielen, Mary!«, ruft Lillia hoch.
Im selben Moment höre ich das Quietschen der Tür von Tante Bettes Schlafzimmer am anderen Ende vom Flur. Schnell halte ich einen Finger so hoch, dass die Mädels es sehen, dann hüpfe ich zurück ins Bett und stelle mich schlafend.
Ich öffne die Augen ein winziges bisschen und sehe, wie Tante Bette meine Zimmertür mit dem nackten Fuß aufschiebt und sich in meinem Zimmer umsieht. Sie ist im Nachthemd, und ihr langes, dichtes Haar steht wild ab.
Auf Zehenspitzen tappt sie an meinem Bett vorbei zum Fenster. Hoffentlich haben Lillia und Kat sich rechtzeitig weggeduckt. Es wäre mir lieber, sie würden Tante Bette so nicht sehen. Ich wünschte, sie könnte sich wenigstens erst die Haare kämmen und Lippenstift auftragen. Außerdem ist morgen Schule, und auch wenn Tante Bette bisher wirklich cool war, will ich lieber nichts riskieren.
Sie schaut lange aus dem Fenster, ihr Atem formt kleine Wölkchen auf dem Glas. Dann zieht sie sanft die Vorhänge vor und geht zurück in ihr Zimmer.
Ich weiß, ich sollte besser noch eine Weile warten, bis Tante Bette auch ganz sicher eingeschlafen ist, aber ich will nicht, dass Kat und Lillia weggehen. Also schnappe ich mir nach ein, zwei Minuten einen Pullover und schleiche mucksmäuschenstill die Treppe hinunter.
Kat und Lillia sitzen im Garten unter unserer hohen Kiefer. Beide lehnen mit dem Rücken am Baumstamm, Kat mit ausgestreckten, Lillia mit angezogenen Beinen.
»Hey«, sage ich, »tut mir leid, dass es so lang gedauert hat. Meine Tante ...«
Lillia gähnt. »War sie das da oben am Fenster? Sie sieht ein bisschen wie ... wie eine Hexe aus.« Kat macht ts, ts, und Lillia schiebt schnell ein »Entschuldigung« hinterher.
Es macht mich traurig, was Lillia da sagt, gleichzeitig weiß ich, dass sie recht hat. Tante Bette ist wirklich meine Lieblingstante, aber sie hat schon seit sehr vielen Jahren mit Depressionen zu tun, sagt meine Mutter. Eigentlich verstehe ich nicht, wieso, denn sie hat ein Leben geführt, das ich sonst nur aus Büchern kenne: Sie ist um die halbe Welt gereist, hat ihre Bilder verkauft und lauter interessante Leute kennengelernt. Sie war einmal eine schöne Frau, und es gab kein Kartenspiel, das sie nicht kannte. Doch wenn ihre dunklen Tage kamen, wurde sie ein völlig anderer Mensch. An manchen Tagen kam sie kaum aus dem Bett. Deshalb hat sie auch einmal einen ganzen Sommer lang hier bei uns gewohnt.
»Mom sagt, als sie beide in der High School waren, konnte Tante Bette jeden Jungen am Strand dazu kriegen, ihnen ein Eis zu spendieren. Sie mussten nie Geld mitnehmen.« Ich schiebe mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
Kat steckt sich eine Zigarette in den Mund. »Echt jetzt?«, sagt sie gelangweilt, und bei ihren Worten tanzt die Flamme ihres Feuerzeugs.
Darauf folgt erst einmal eine längere, etwas peinliche Pause.
Dann verschränkt Lillia die Finger und setzt ein breites Lächeln auf. »Also, Kat und ich wissen jetzt, wie wir uns an Rennie rächen können, und zwar an Homecoming.«
»Oh, toll«, sage ich und schlucke einmal heftig: »Ist sie ... ich meine, geht sie mit Reeve? Ich hab gehört, wie ein paar Mädels beim Footballspiel darüber geredet haben.«
Lillia schüttelt den Kopf. »Nein. Ich meine, sie hat ihn definitiv im Visier, aber ich weiß nicht, ob er sie so sieht.«
»Ach so«, sage ich und richte mich auf. »Ich war bloß neugierig.«
Kat beugt sich vor. »Also, kommen wir zur Sache: In der Ballwoche werden Wahlzettel ausgegeben. Jeder darf abstimmen, die Wahlzettel kommen in die verschlossene Urne, die sie auch für die Schülerbeiratswahlen benutzen. Was ziemlich lächerlich ist, wenn ihr mich fragt. Wir werden also diese Wahlurne knacken und so viele Wahlzettel austauschen, dass Rennie verliert.« Sie lacht hämisch. »Das wird die größte Enttäuschung in ihrem miesen kleinen Leben.«
Lillia legt beide Hände seitlich ans Gesicht. »Ich kann es kaum abwarten, ihre Miene zu sehen!«
»Und dann gewinnt Lillia, stimmt’s?«
»Nein!« Lillia schüttelt den
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