August
verhalten.
Kein Wort also zu Gabi über ihre Blutsenkung oder darüber, daß der alte Doktor es abgelehnt hatte, ihr einen Pneu anzulegen, was soviel hieß, ihre Lunge mit Luft aufzupumpen und die foschen Stellen – so nannte die Oberschwester sie – zusammenzudrücken, so daß die Motten ihre Lebensgrundlage verloren. Die Gabi fragte auch nicht danach, anders als die meisten Kranken. Gabi war ein fideles Haus, so nannte es die Oberschwester. Und es stimmte, aus der Ecke, wo Lilo, Ingelore und Gabi während der Liegekur nebeneinanderlagen, brachen oft Lachsalven über dem Frauensaal aus. Nicht jede mochte das. Fräulein Schnell zum Beispiel, die in ihrem Bett saß und mit einer Pinzette dem Damenbart zu Leibe rückte, der üppig an ihrem Kinn sproßte, fand das Benehmen der drei Freundinnen einfach rücksichtslos. Der Neid der Besitzlosen, sagte Gabi.
Sie hatte übrigens niemanden, das bekam August nach und nach heraus, sie war mutterseelenallein auf der Welt wie er. Er hörte es von ihr selber, als er, wie so oft, auf seinem Stühlchen im Frauensaal saß, in den er sich immer häufiger hineinschlich, bis ihn niemand mehr bemerkte und auf die Idee kam, ihn hinauszuweisen. Gabis Mutter war also gestorben, nach der Flucht. Natürlich auch an den Motten, in einem anderen Krankenhaus, in dem Gabi schon mit der Lilo in einem Zimmer gelegen hatte. In dem Lilo schon erfahren hatte, was August jetzt mit anhören mußte, daß Gabi und ihre Mutter vorher in einem elenden Untermieterzimmer bei einer hexenhaften Wir
tin kampieren mußten. Wo es ihnen nicht mal möglich war, sich richtig zu waschen. Diese Einzelheit hatte sich August eingeprägt, sie fällt ihm wieder ein, während er seinen Bus in das Umfeld von Dresden steuert. Nun, wo sie bald aussteigen sollen, schlafen die Senioren hinter ihm, er kennt das schon. In der Mottenburg konnten wir uns waschen, denkt er, wenn auch nur mit kaltem Wasser, das härtet ab, hat die Oberschwester gesagt, die er vor sich sieht, ebenso den düsteren Waschraum mit den schadhaften Waschbecken. Er hat noch lange nach dem Krieg kein eigenes Bad gehabt, zuerst kamen die Jahre im Kinderheim, an die er nicht gerne zurückdenkt, dann die Lehre zum Schlosser in dem Volkseigenen Betrieb, Wohnen im Lehrlingsheim, immer Gemeinschaftsduschräume, August kannte nichts anderes.
Er weiß noch, durch welchen glücklichen Zufall er eines Tages als Beifahrer bei einem Betriebs- LKW einspringen mußte, weil ein Kollege krank geworden war. Und wie ihm das gefiel, das Fahren über Land. Zum ersten Mal gefiel ihm etwas, das hat er nicht vergessen. Und zum ersten Mal wollte er etwas. Er wollte LKW -Fahrer werden. Zum ersten Mal wartete er nicht ab, was andere mit ihm wollten. Er ging selber zur Kaderabteilung, er sieht den Kollegen noch vor sich, der in seiner Kaderakte blätterte, der zögerte. Ja, Fahrer sei natürlich ein sehr verantwortungsvoller Beruf, ich weiß das, sagte August, der sonst selten den Mund aufmachte. Ja, der Betrieb habe natürlich eine eigene Fahrschule, auch das wußte August, aber der nächste Lehrgang sei voll besetzt, höchstens, wenn noch einer abspringe. August ging jeden Tag zur Kaderabteilung und fragte, ob noch einer abgesprungen sei, und ei
nes Tages, kurz bevor der neue Lehrgang begann, wedelte der Kollege mit dem Schein, der schon auf seinen Namen ausgefüllt war und ihn zur Teilnahme an der Fahrschule berechtigte und schließlich zum selbständigen Fahren eines Lastkraftwagens. August war ungeübt in Freude, es war ein fremdes Gefühl. In letzter Zeit denkt er öfter daran.
August weiß noch, was die Lilo für ein Gesicht machte, als Gabi eines Tages nicht mehr am Gemeinschaftsessen teilnehmen durfte. Das sei vorübergehend, sagte sie zu Gabi, sie rief Schwester Ilse zur Zeugin an, die von jetzt an Gabi das Essen ans Bett brachte. Ilse nickte beklommen, aber vor der Tür hörte August sie zur Lilo beinahe strafend sagen: Bei der Blutsenkung! Als habe die Lilo die Blutsenkung der Gabi zu verantworten. Die Lilo aber, anstatt selbst in den großen Eßraum zu gehen, ging zu Gabi zurück und versuchte, ihr soviel wie möglich von ihrem Teller in den Mund zu stopfen, denn die Gabi hatte angefangen, das Essen zu verweigern. Die Lilo konnte sehr sanft, dann aber plötzlich sehr grob werden, das hörte August. Sie, die Gabi, solle doch bloß mal daran denken, wieviel Menschen heutzutage froh wären, wenn sie einen solchen Teller mit Mittag hätten. Wer äße schon gerne jeden
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