August
Tag Kohlrüben, sie solle sich doch einfach einbilden, daß es Butterkartoffeln mit Erbschen wären, oder was sie sonst gerne esse. Milchreis mit Zucker und Zimt und brauner Butter, sagte die Gabi fast erschrocken, und die Lilo: Na bitte. Meinetwegen. Und fuhr fort, sie zu füttern. Und dann sangen sie ein bißchen, und Gabi sang ihr Lieblingslied: »O mein Papa ist eine wunderbare Clown, o mein Papa ist eine große Künstler«. Und als die Lilo mit
dem Teller aus dem Zimmer kam, konnte man denken, sie weine, und dann ließ sie aus Versehen den Teller auf der Steintreppe fallen, und August half ihr, die Scherben aufzusammeln. Du bist wohl immer in der Nähe, hat da die Lilo zu August gesagt, und der hatte genickt.
Sie hat es sich gefallen lassen, die Frauen im Frauensaal lachten schon über sie beide, sie, Lilo, sei die Prinzessin, und August sei wohl ihr Page. August wußte nicht, was ein Page ist, aber als die Lilo ihn danach fragte, fiel ihm das Märchen »Dornröschen« wieder ein, das seine Mutter ihm einmal vorgelesen hatte. An das Gesicht seiner Mutter konnte er sich kaum noch erinnern, aber auf einmal sah er deutlich ihre Hände vor sich, die das Buch hielten. Die Lilo brauchte kein Buch, sie erzählte das Märchen auswendig, abends vorm Schlafengehen in der Kinderecke des Männersaals. Das war das Schönste, was August sich ausdenken konnte, nur daß er dieses schönste Erlebnis mit den anderen Kindern teilen mußte, mit Klaus und Anneliese, und mit Ede. Und daß die Lilo am Schluß zu jedem der Kinder ans Bett trat und ihm Gute Nacht wünschte, nicht nur ihm, August. Dabei war er sicher, sie gehörte ihm. Aber er mußte doch einsehen, hielt die Lilo ihm vor, daß Klaus und Anneliese, deren Mutter, Frau Wittkowski, im kleinen Frauensaal lag, in dem stillschweigend die schwereren Fälle untergebracht wurden, auch Anspruch auf ein Gute-Nacht-Lied hatten, und Ede sowieso, der ja nicht einmal wußte, wie er hieß, als sie ihn aus einem Flüchtlingstreck herausfischten, in dem niemand ihn kannte. Oder kennen wollte. Denn Ede war ein wildes unberechenbares Kind, das sagte die Oberschwester. Nicht gut zu leiden. Ein Geburtsdatum hatte
er nicht, keinen Herkunftsort, keinen Nachnamen. Als man ihm Papier und Bleistift hinlegte, krakelte er EDE hin, also war er vielleicht schon ein paar Monate zur Schule gegangen. Sie tauften ihn Findling. Ede Findling, das paßte. Der hat einen Schaden, sagte die Oberschwester, der gehört ganz woanders hin. Aber die Lilo sagte, der hat keinen Schaden im Kopf. Der hat einen Schaden durch irgend etwas, was er erlebt hat und was zuviel für ihn war. Darum hat er alles vergessen. Wegen nichts griff Ede alle Leute an, schlug und kratzte und spuckte, zwei Männer mußten ihn bändigen.
Abends beim Gute-Nacht-Lied lag er still. Wenn die Lilo ihm Gute Nacht sagen wollte, drehte er sich weg. August konnte Ede nicht ausstehen, aber daß die Lilo ihn anderen Kindern vorziehen würde, kam ja nicht in Frage. Da konnte er ganz beruhigt sein. Schlimmer stand es mit Hannelörchen, in jedem Sinne. Hannelörchen war nicht älter als fünf. Sie hatte Papiere bei sich gehabt, einen Brustbeutel mit Papieren, als man sie auffand. Dabei lag ein Briefchen, das ihre Mutter geschrieben hatte, an einen unbekannten guten Menschen gerichtet, der Hannelore finden würde, falls ihrer Mutter etwas zustieße. Er möge sich, für Gottes Lohn, des Kindes annehmen.
Die Umgebung der großen Städte mag August nicht. Diese häßlichen riesigen Einkaufszentren mit ihren unüberschaubaren Parkplätzen. Diese Autohäuser, die sich in ihren Werbesprüchen überbieten. Diese Fast-Food-Restaurants, in die August niemals einen Fuß setzt. Meist hat er eigene Brote mit, die allerdings nicht so liebevoll belegt sind wie damals, als Trude noch lebte. Er hat noch keinen Hunger.
Er muß sich konzentrieren auf die stadtnahe Autobahn, die von Jahr zu Jahr dichter besetzt ist, auf die Baustellen, die kein Ende nehmen, nur ihren Standort verändern. Auf die Staus, die von ihnen verursacht werden und die Fahrtzeit verlängern. August bleibt gelassen. Er wird niemals ungeduldig. Du hast eine Engelsgeduld, hatte Trude öfter zu ihm gesagt. Er gerät niemals außer sich. Seine Kollegen wissen das zu schätzen. Manchmal halten sie ihn wohl für ein bißchen langweilig. Sag du doch auch mal was, haben sie ihn anfangs angestoßen, wenn sie in der Pause zusammensaßen. Aber was sollte er sagen. Er mußte sich nicht über seine Frau
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