Aus Dem Dunkel
Commander zögerte kurz, da er sich ohne Zweifel ein kleines Kind vorstellte. »Okay, dann bis nachher.«
In Helens Ohr klickte es, als aufgelegt wurde. Der Hörer rutschte ihr aus den tauben Fingern und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Badematte. Die Kerzenflammen schienen zu verschwimmen. Vielleicht war sie ja in der Wanne ertrunken und hatte eine Art Halluzination.
»Mom!« Es war Mallory, die sich über sie beugte, mit ihrem Haar, das jetzt mitternachtsschwarz war anstatt kastanienbraun. »Es geht um Dad, stimmt’s?«, wollte sie wissen. Ihr weißes Gesicht war nicht nur das Ergebnis ihrer Färbeaktion. »Er ist zurück, oder?«, fragte Mal angespannt. Helen wusste nicht, ob sie überglücklich oder einfach nur wütend war. Aber so simpel war es wahrscheinlich nicht.
Arme Mallory. Als Helen und Gabe geheiratet hatten, war sie völlig euphorisch gewesen, endlich einen Vater zu bekommen. Und es war schmerzhaft für sie gewesen, herausfinden zu müssen, dass dieser Vater keine Zeit für eine heranwachsende Tochter hatte.
»Er erinnert sich nicht an uns.« Helen berichtete, was der Arzt ihr gerade gesagt hatte. »Er leidet an einer Art Gedächtnisschwund, weil er … äh … « Sie brachte es einfach nicht über die Lippen.
»Gefoltert worden ist?«, bot Mallory an.
»Ich vermute ja. Wir müssen ins Krankenhaus fahren.« Helen stemmte sich aus der Wanne hoch.
»Mom, dein Haar ist noch voller Seife.«
Helen drehte den Hahn auf und streckte ihren Kopf unter das kalte Wasser. Dann zog sie sich in Rekordzeit an, bürstete ihr Haar durch und quetschte ihre Füße in Tennisschuhe, während Mallory auf dem Bett saß und wartete.
»Möchtest du, dass ich fahre?«, fragte Mal und wirkte verdächtig gelassen.
»Ja, klar.« Helen rang sich ein Lachen ab. Dafür, dass sie nicht einmal mit Gabe verwandt war, ähnelte Mallory ihm sehr. Sie schien jeden noch so heftigen Schlag wegzustecken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und ließ sich von der harten Realität des Lebens offenbar nicht beeindrucken. Aber irgendwann war der Stress dann doch aus ihr herausgebrochen, und sie hatte begonnen, sich selbst zu verletzen. Helen hatte sich daraufhin professionelle Hilfe geholt.
»So schwer ist es nun auch wieder nicht, zu fahren«, beharrte Mallory, während sie ihr durch den Flur und zur Eingangstür hinaus folgte.
Helen nahm den silbernen Jaguar, der Gabes persönliches Eigentum gewesen war. Es war bereits fast neun Uhr und ein wundervoller Augustabend. Sie jagten der Sonne nach, die schnell hinter den Bäumen versank. Helen fuhr hundertzwanzig, die Finger so fest um das Steuer geschlossen, dass sie eine Hand geradezu davon losreißen musste, um das Radio einzuschalten.
Tu einfach so, als wäre alles normal , redete sie sich zu. Ein Gefühl von Dankbarkeit verspürte sie nicht, auch wenn es nicht jeden Tag passierte, dass ein vermisster Soldat wieder auftauchte. Was war sie nur für eine Ehefrau, dass sie davon nicht völlig begeistert war?
Sie war skeptisch, das war alles. Sie wusste einfach nicht, was sie zu erwarten hatte. Gabe hatte sich ein Jahr lang in Gefangenschaft befunden. Nordkoreaner verhielten sich Ausländern gegenüber grundsätzlich eher unfreundlich. Zweifellos hatten sie ihn durch die Mangel gedreht, um Informationen aus ihm herauszupressen, die gegen die USA eingesetzt werden konnten. Wer konnte schon wissen, welche Auswirkungen das auf seine Persönlichkeit gehabt hatte.
Sie warf Mallory einen Blick von der Seite zu und fragte sich, ob ihre Tochter innerlich genauso aufgewühlt war wie sie selbst. Doch Mallory wirkte gelassen und blickte aus dem Fenster auf die Skylines von Norfolk und Portsmouth. Es war ihr absolut nicht anzusehen, was sie dachte.
»Es wird alles gut werden, Mal«, sagte Helen, wenn auch nur, um etwas zu sagen. Die Therapeuten hatten sie immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es war, dass man miteinander redete.
Mallory erwiderte nichts. Mit einem Blick auf den Schoß ihrer Tochter stellte Helen fest, dass Mallory beide Daumen drückte. Sie riss ihren Blick von diesem Anblick los und fragte sich, worauf Mallory hoffte. Dass Gabe gesund war? Dass er sich an sie erinnern würde? Sicherlich war sie nicht so naiv, auf irgendetwas zu hoffen, was darüber hinausging.
Wie schlimm musste er gelitten haben, dass er seine Erinnerungen verdrängt hatte! Sie schaffte es nicht, sich seine Qualen vorzustellen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, wenn sie daran dachte, in
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