Aus Dem Dunkel
Rätseln, die er den Leuten, die ihn befragten, aufgab, verwirrte sie dies am meisten. Wo zum Teufel war er das vergangene Jahr über gewesen? Die Navy hatte ihn gerade für tot erklärt.
Gabe stieß einen Seufzer aus und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, während er verzweifelt nach irgendeinem Erinnerungsfetzen an diese Mission suchte, irgendetwas, womit er das Vertrauen seines Commanders zurückgewinnen konnte. Für eine Sekunde war da ein Bild, wie ein aufblitzender Funke in der Dunkelheit, aber dann erlosch er auch schon wieder und verschwand in dem gähnenden Loch der vergangenen drei Jahre. Gabe schüttelte den Kopf und schämte sich, seinem Commander in die Augen zu sehen.
Lovitt beugte sich vor und drückte Gabes Hand. »Ich möchte nicht, dass Sie sich Sorgen um Ihre Karriere machen, Lieutenant. Ich möchte, dass Sie sich darauf konzentrieren, gesund zu werden und wieder auf die Beine kommen. Es ist ein gottverdammtes Wunder, dass Sie heute überhaupt hier bei uns sind.«
»Danke, Sir«, murmelte Gabe. Er wusste Lovitts Unterstützung zu schätzen, aber er hörte auch unterschwellig etwas Bedrohliches aus seinen Worten heraus: Lovitt rechnete nicht damit, dass Gabe sich wieder erholen würde. Er glaubte nicht daran, dass Gabe jemals wieder ein SEAL werden würde. Und diese Erkenntnis verursachte Gabe Magenschmerzen.
»Wie ich höre, werden Sie morgen entlassen«, sagte der CO und erhob sich.
»Ja, Sir.« Schon bei dem Gedanken daran zog sich ihm erneut der Magen zusammen. Er würde nach Hause fahren, obwohl er nicht wusste, was sein Zuhause war. Seine letzte Erinnerung bestand darin, dass er im BOQ , der Unterkunft für ledige Offiziere, gewohnt hatte. Jetzt hatte er offenbar Frau und Kind. Ohne Zweifel lebte er mit ihnen zusammen, obwohl er keine Ahnung hatte, wo das sein sollte.
Die einzige Familie, an die er sich erinnern konnte, waren seine Kameraden beim Echo Platoon. »Sind die Jungs hier, Sir? Westy, Bear und … der Neue, Luther?«
Lovitt warf ihm ein schiefes Lächeln zu. »Luther ist jetzt Lieutenant, Junior Grade«, erklärte er geduldig. »Die Männer sind auf Küstenpatrouille. Ich habe sie über Funk darüber informiert, dass Sie wieder aufgetaucht sind, und Master Chief León ist in diesen Minuten auf dem Weg hierher. Ich nehme an, er wird eintreffen, bevor man Sie entlässt.«
Gabe nickte, und ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn. »Danke, Sir.« Der Master Chief war genau der richtige Mann, den jemand in seiner Situation gern in seiner Nähe hatte. Im Gegensatz zum CO würde er Gabes Selbstvertrauen nicht untergraben. Er würde Gabe anstacheln, sich an die vergangenen drei Jahre zu erinnern, ihm vorschlagen, sich wieder an seine verdammte Arbeit zu machen. Gabe sehnte seinen Besuch geradezu verzweifelt herbei.
»Nun gut.« Lovitt schlug die Hacken seiner makellos weißen Schuhe zusammen. »Nehmen Sie es nicht so schwer, Renault. Ihre Frau wird sich gut um Sie kümmern. Sie kann sich glücklich schätzen, dass Sie zurück sind.«
Gabe brachte es einfach nicht über sich, darauf zu antworten. Er hatte gesehen, was die Feinde mit ihm gemacht hatten, er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Frau noch ein Interesse an ihm haben sollte.
»Ruhen Sie sich noch etwas aus.« Lovitt wandte sich der Tür zu.
»Einen schönen Abend, Sir. Vielen Dank für die Blumen«, rief Gabe, obwohl er nicht einmal einen kurzen Blick darauf werfen mochte. Lilien. Gott, waren die nicht eigentlich etwas für Beerdigungen?
Als die Tür hinter dem CO ins Schloss fiel, sank Gabe zurück in die Kissen und fluchte erst einmal ausgiebig. Sein Commander hatte ihn schon so ziemlich abgeschrieben. Wenn er sein Gedächtnis nicht sehr schnell wiedererlangte, war er seinen Job los. Und eigentlich auch seine Identität. Und was dann? Bedrückt dachte Gabe darüber nach, was er gewesen war, bevor er zu den SEAL s gekommen war – kaum mehr als ein kleiner Ganove. Bei den SEAL s hatte er zu Selbstbewusstsein gefunden und Disziplin gelernt. Sein Leben hatte einen Sinn bekommen und ein Ziel. Es waren die besten Jahre seines Lebens gewesen. Davor war er nur irgendein Junge gewesen, der sich auf der Suche nach Streit und Schlägereien herumgetrieben hatte, um die tief in ihm sitzende Wut loszuwerden.
Wenn er also kein SEAL mehr war, was war er dann? Ehemann und Vater? Wie war es dazu gekommen?
Er war der letzte Mann auf der Welt, den irgendeine Frau hätte heiraten sollen. Nicht, dass er keine
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