Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers
besitzen die vermögenden Bürger der Stadt im Schnitt achtzehn Uhren, von denen die billigste 4000 Euro gekostet hat. Sie sind nicht daran interessiert, dass jeder dahergelaufene Hartz IV-Empfänger so einfach und umsonst Zeit ablesen kann, deshalb starteten sie eine Initiative, deren Ziel die Abschaffung der Normaluhr war, denn die Zeit gehört nur denen, die sie sich leisten können. Es ist bestimmt kein Zufall, dass viele reiche Russen zur Kur nach Bad Homburg fahren. Man weiß aus der schlimmen Zeit, dass der Russe sehr hinter Uhren her war und gerne drei bis fünf übereinander trug, was er heute wahrscheinlich immer noch macht und deshalb kein Interesse an Normaluhren hat. Lieber möchte er von armen Tagelöhnern nach der Uhrzeit gefragt werden, um dann, nach einem genießerischen Blick auf seinen uhrenübersäten Unterarm, mit bedauerndem Augenaufschlag zu antworten: »Zu spät, mein Freund, viel zu spät für dich!«
Es gab Demonstrationszüge, auf denen Transparente hochgehalten wurden mit Aufschriften wie »Zeit ist kostbar« oder »Zeit ist Geld« oder eben »Normaluhren raus aus Bad Homburg«. Es wurde durch mehrere Instanzen hart prozessiert, und jetzt muss das Verfassungsgericht entscheiden, ob es ein allgemeines Recht auf freien Zugang zu Zeitanzeigegeräten gibt. Aus Angst vor Racheakten hat der Betreiber der Uhr sein Bekenntnis architektonisch verbrämt und schüchtern an den Sockel der Säule geschraubt: »Normaluhren gehören ins Stadtbild.«
2010
Februar
Unterwegs von Frankfurt nach Hamburg, aber eigentlich unterwegs in fremden Schränken: »Hallo, Frau Berger. Ja, ich sitze im Zug. Wie bitte, was suchen Sie? Also, links neben meinem Schreibtisch, da ist doch der Schrank, nein, nicht der, mit den Hängeregistraturen, genau, daneben, jaja, die Tür klemmt ein bisschen, Sie müssen erst drücken und dann ziehen, was?, nach links und da steht ganz oben, in der ersten oder zweiten Reihe ein Ordner mit einem blauen Rücken, nein, nein, nicht der mit den Pachteinnahmen, der ist unbeschriftet, also, genau, ja, schlagen Sie den mal auf, ganz vorne müsste der Vorgang sein, ja, hab ich vorgestern noch angelegt. Wie? Die Quittung? Ist in der Klarsichthülle dahinter.« Mindestens ein Schrankreiseführer sitzt in jedem Großraumabteil, das gehört zum Serviceangebot der Bahn. Da weiß man dann die Vorteile eines unbeschrankten Bahnübergangs zu schätzen.
Auf dem Rückweg wird es nicht besser. Während der ganzen Fahrt starrt mich ein älterer Herr ungeniert grinsend an. Er fragt mich: »Harndrang unter Kontrolle?« Und er verspricht: »Weniger müssen müssen. Auch unterwegs.« Was geht den Typ das an? Er ist zwar nur auf einem Plakat, aber dafür umso aufdringlicher. Eine eklatante Verletzung der Menschenwürde. Warum muss das Mittel gegen das Müssen ausgerechnet »Prostagutt« heißen? Erwartet uns demnächst ein Potenzmittel namens »Fickoflott«? Der Harndrangkontrolleur kann sein Wasser für sich behalten, aber nicht seine Werbebotschaft. Er sagt: »Nutzen Sie die doppelte Pflanzenkraft von Prostagutt forte.« Was ist denn doppelte Pflanzenkraft? Wurden etwa zwei Pflanzen zur Herstellung dieses dämonischen Präparats verwendet? Wegen der ständigen Verspätungen der Bahn wird allerdings auch Prostagutt bald an seine Grenzen stoßen und dem Harndrang eines Großraumwagens voller Schrankreiseführer nicht mehr gewachsen sein. Spätestens dann wird man uns mit Werbung für Inkontinenzwindeln malträtieren.
Autosuggestionsprobleme
Man kann sich auch bahnfrei bewegen. Meine erste Fahrt in einem Auto, an die ich mich wirklich erinnern kann, fand etwa im Alter von sechs Jahren statt. Ich hatte keinen Führerschein, fuhr aber einen Bus der Firma Pahlmeyer & Studier. Man muss der Genauigkeit halber hinzufügen, dass ich nicht in dem Bus saß, sondern ihn von außen mit den Fingern steuerte. Der Bus war ein schön bemaltes Plastikmodell im Maßstab 1:87. Das Vorbild verkehrte vom Zentralen Bielefelder Busbahnhof nach Kirchdornberg. Ich fuhr damit zweimal in der Woche zu meiner Großmutter und hatte mir alle Geräusche, die der Bus unterwegs machte, genau eingeprägt. Ich konnte die gesamte zwanzigminütige Fahrstrecke wiedergeben. Dabei erzeugte ich einen tiefen, halb singenden, halb brummenden Ton – das war der Busmotor –, bei jedem Schalten heulte ich einmal kurz auf, bevor ich wieder gleichmäßiger vor mich hin brummte. Ich zog den Bus über die geometrischen Muster des Orientteppichs im
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