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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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ehrliche. Es lohnt sich noch, in ihm um sein Leben zu kämpfen, und insofern ist er ein Abenteuer, da sollen Sie recht haben. Die Verwaltung dagegen hat eine entsetzlichere Hölle aufgebaut, als es je ein Krieg war, die Hölle der Alltäglichkeit.«
    »Für uns am aufschlußreichsten sind jene Ihrer Schriften, die von Ihren Wünschen handeln«, begann der Beamte wieder, ohne auf meinen Wunsch einzugehen, mehr vom Krieg im Tibet zu vernehmen. »Sie bestätigen uns, daß Sie noch von Abenteuern träumen, die wir uns nicht mehr leisten können.«
    Ich lachte: »Wir leisten uns allerdings nur noch ein Konzen-trationslager, in dessen Gaskammern wir durch Langeweile umkommen.«
    »Sie haben recht«, antwortete nach einigem Schweigen der Beamte, »wir sind alle Gefangene.« Das Lachen der Kinder im 121

    Hof wurde immer unerträglicher. »Wir haben durch die Jahr-tausende hindurch sorglos von der Erde genommen, was sie uns bot«, fuhr er fort. Seine Stimme klang plötzlich leidenschaftlich, sein Gesicht verwandelte sich, und seine Augen funkelten in einem seltsamen, drohenden Feuer: »Wir trugen ihre Berge ab und schlugen ihre Wälder, durchpflügten ihre Felder, fuhren über ihre Meere. Der Boden war unerschöpflich, auf dem wir unsere Städte gründeten, unsere Reiche errichteten und wieder zerstörten. Verschwenderisch wie die Natur und grausam wie sie führten wir unsere Kriege, zuerst aus Lust, dann aus Hunger nach Gold und Ruhm und endlich aus Langeweile, opferten unsere Kinder, starben von Seuchen dahingerafft und lagen voll Gier nach immer neuem Leben bei unseren Weibern, aus deren Schoß die Menschheit immer mächtiger, immer zahlreicher hervorquoll, ein immer gewaltigerer Strom, und nie kam uns der Gedanke, daß die Erde selbst, dieser kleine Planet, unsere Gnade und unsere Aufgabe ist.«
    In diesem Augenblick sauste klirrend der bunte Kinderball durch das Fenster und rollte auf meinen Schoß.
    »Schon die zweite Scheibe«, unterbrach sich der Beamte,
    »und Glas ist schwer aufzutreiben.« Ich gab ihm mechanisch den Ball, und er warf ihn hinunter.
    »Man weiß doch, daß hier die Verwaltung arbeitet«, schrie er ihm nach. »Immer wenn ich eine wichtige Besprechung habe, müßt ihr lachen und Ball spielen!«
    »Ein Beamter hat nie eine wichtige Besprechung«, kam die Stimme eines Knaben herauf.
    Der Beamte schloß das Fenster wieder. Draußen hörte man jetzt die Mütter, die mit den Kindern schimpften, endlich eine Männerstimme.
    »Der Hauswart«, erklärte der Beamte und zuckte mit der Achsel. »Er ist immer betrunken und hält nie Ordnung. « Er nahm aus der Mappe einen Karton und heftete ihn mit Reißnä-

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    geln anstelle der nun fehlenden Scheibe an den Fensterrahmen.
    Es wurde dunkel im Zimmer, und der Beamte setzte sich wieder.
    »Sie träumten von Fahrten nach dem Mond«, begann er unvermittelt von neuem, ohne zu beachten, daß ich nicht nur vom Vorfall mit dem Ball verwirrt war, sondern auch von der Leidenschaft und der Exaktheit, mit der er jetzt sprach. »Wir waren auf dem Mond. Man hat die Flüge schon unternommen, von denen Sie träumten.« (Er wies mit dem Finger auf ein Schriftstück, das er aus der Mappe genommen hatte und welches meine Schrift aufwies.) »Es war ein fürchterliches, stumpfsinniges Unternehmen. Wir lernten sehen, daß außer uns nichts ist als der tödliche Unsinn einer unbelebten Natur, in deren grenzenlosen Wüsten die Erde als der einzige atmende Ball schwimmt. Diese Fahrten gaben uns die Erde zurück und rückten uns wieder in die Mitte, eine zweite ptolemäische Wendung. Doch nicht Einsicht, nicht Vernunft, nicht die Religion vermochte uns zu ändern, es war die Erde selbst, die uns bezwang. In dem Maße, wie wir zunahmen, nahm sie ab, und plötzlich war sie klein und übersichtlich geworden, ganz in unser Bewußtsein aufgenommen. Die Not besiegte uns. Die alten Wirtschaftssysteme brachen zusammen, nicht wegen Theorien, sondern wegen der Unhaltbarkeit ihrer Struktur. Das Zusammenrücken aller ließ eine Welt nicht mehr zu, deren kleinerer Teil in verschwenderischem Reichtum lebte und immer größeren Unsinn erdachte, die Langeweile zu töten, während der weitaus größere Teil in bitterer Armut verharrte.
    Das unheimliche Anwachsen der Bevölkerung des Planeten erschütterte die politischen Gefüge, noch suchte man durch sinnlose Kriege einen sinnlosen Zustand aufrechtzuhalten, dann brach alles zusammen. Das allgemeine Elend, die Hun-gersnot, die Angst vor den immer

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