Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
01. Zurück zur Normalität
Das Licht ist so grell, dass es in meinen Augen brennt. Ich kann nichts erkennen und kneife meine Augenlider zusammen. Am liebsten würde ich mit der Hand die Augen vor dem Licht abschirmen, doch ich kann meine Arme nicht bewegen. Genauso wenig wie den Rest von meinem Körper. Alles fühlt sich taub und leblos an. Ich habe das Gefühl, in meinem eigenen Körper gefangen zu sein. Obwohl ich mich nicht bewegen kann, spüre ich, dass ich nackt bin. Es ist kalt.
Ein Kopf erscheint in meinem Gesichtsfeld. Er durchbricht das grelle Leuchten. Es ist eine Frau. Ihre Augen erstrahlen in dem Farbton RAL 5012, lichtblau. Ihr Kopf ist kahl, während ihr weißer Anzug das brennende Licht der Lampen reflektiert. Ich bin zurück in der Legion.
Bevor ich in irgendeiner Weise reagieren kann, stülpen sie mir eine Art schwarzen Trichter aus Gummi über Mund und Nase. Ich will mich wehren. Ich will schreien. Ich will nicht vergessen.
Obwohl ich weiß, dass Finn und die Rebellen das Letzte sein sollten, woran ich in diesem Moment denke, bin ich machtlos dagegen. Der Glaube daran, Finn irgendwann wiederzusehen, ist das Einzige, was mir Hoffnung gibt, während ich zurück in das bodenlose Nichts gleite, aus dem ich gerade erst erwacht bin.
Es ist still. Keine Stimmen. Kein Vogelgezwitscher. Kein Wind, der durch die Blätter der Bäume weht. Nichts.
Ich öffne meine Augen und starre an die weiße Decke. Es wäre tröstlich gewesen, den unebenen, roten Sandstein der Höhlen zu sehen, in denen ich mit den Rebellen gelebt habe. Aber auch ohne dass ich meine Augen geöffnet hätte, wüsste ich, dass ich zurück in der Sicherheitszone der Legion bin. Ich kann es riechen. Die Höhlen riechen nach Erde, Tannennadeln, Moos, Sand und oft auch nach Maries frischgebackenem Brot. Sie riechen nach Leben und Freiheit. Die Sicherheitszone hingegen riecht einfach nur steril. Ständig liegt der scharfe Geruch von Reinigungsmitteln in der Luft. Früher ist es mir nie aufgefallen, doch jetzt ist es so stark, dass ich das Gefühl habe, kaum atmen zu können.
Ich lasse meinen Blick durch die Zelle gleiten. Es gibt weder Tisch und Stuhl noch eine Dampfdusche oder den kleinen Kasten für die Essensausgabe. Es gibt keine Fenster, aber das habe ich auch nicht erwartet. Die Sicherheitszone liegt tief unter der Erde, dort, wo nie ein Licht hinfällt, und die Menschen deshalb niemals wissen, ob es Tag oder Nacht ist. Nicht die Sonne und der Mond entscheiden darüber, sondern die Legionsführer.
Das Bett, auf dem ich liege, ist das einzige Möbelstück in dem kleinen Raum. Es ist anders als die Betten, die ich von früher gewohnt war. In Höhe von Händen und Füßen sind Schnappverschlüsse angebracht. Vielleicht sollte ich dankbar dafür sein, dass sie mich nicht gefesselt haben, doch ich fühle mich innerlich leer. Unfähig, irgendetwas zu fühlen. Es fällt mir schwer, nachzudenken und einen klaren Gedanken zu fassen.
Die Wände sind aus kaltem Stahl, dessen Oberfläche matt ist, sodass ich mich lediglich als kleinen rosa Fleck erkennen kann. Ich streiche mit meinen Händen vorsichtig über den rauen Stoff des braunen Nachthemds. Langsam lasse ich meine Finger höherwandern und berühre meinen Kopf. Er ist so kahl und kalt wie die Decke und die Wände der Zelle. Sie haben mir das kurze, braune Haar, das mir bei den Rebellen gewachsen ist, wieder abrasiert. Ich bin jetzt wieder eine von ihnen. Ein Mensch ohne eigene Meinung, Träume oder Gefühle. Mehr ein Roboter als ein Lebewesen.
Ich sehe, dass mein Körper zittert, bevor ich es spüre. Meine Hände beben und ich presse meine Lippen so fest aufeinander, dass sie reißen und ich den metallischen Geschmack des Blutes auf meiner Zunge schmecken kann. Ich spüre einen feuchten Tropfen auf meiner kalten Haut und fahre verwirrt mit der Hand über meine Wange. Es ist eine Träne. Ungläubig betrachte ich ihre glänzende Nässe auf meiner Fingerspitze und entdecke dabei etwas ganz anderes. In meiner Handfläche ist die schmale, weiße Linie einer Narbe zu erkennen. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem es passiert ist. Es war einer meiner ersten Tage bei den Rebellen, nachdem sie mich aus der Gefangenschaft entlassen hatten. Ich sollte zum ersten Mal bei der Arbeit auf dem Feld helfen. Dabei habe ich mich so dumm und ungeschickt angestellt, dass ich mich mit dem Messer in die Hand geschnitten habe. Finn war außer sich vor Wut. Er hat mich beschimpft und so sehr
Weitere Kostenlose Bücher