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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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sich was Schönes aus.« Aber das dürfen junge Menschen nicht.
    Wir sind die, die alle paar Meter vom Fahrradsattel runter müssen, die Köpfe über Stadtpläne zusammenstecken, fluchen und dann doch auf der Autobahn landen. Wir sind die, die im dreispurigen, sich linksherum drehenden Kreisverkehr tatsächlich ein paar Runden brauchen, um sich richtig einzufädeln. Die, die um drei vor elf nervös werden und hastig noch zwei Bier ordern. Sperrstunde, alles klar, wir Auslandsroutiniers, mit allen Wassern gewaschen, wir kennen die Tücken der Briten. Dann stehen wir da und blicken auf die Uhr, fünf nach elf – es werden weitere Getränke ausgegeben, zwanzig nach elf – immer noch. Ja, wissen die denn nicht, wo sie sind, diese Schotten? In der Hand unsere drei-vor-elf-Biere macht sich einmal mehr die schmerzliche Gewissheit breit, nur scheinbar Bescheid gewusst zu haben. Bis um kurz vor eins dann doch noch die Glocke läutet. Die Sperrstunde haben die Schotten schon lang vor den Engländern abgeschafft.
    Aber genau das putzt uns das Leben. Wenn das Erlebte das Wissen überholt. Vertrautes in den Wind schießen, Veränderung nicht als Gefahr und Angstmacher dämonisieren, und genauso wenig als Herausforderung, Chance oder andern Coachingschrott instrumentalisieren, sondern ganz schlicht als Spiel ansehen, als Unterhaltung, als das, was einen Teil des Lebens aus- und schön macht. In der Basisversion wirft das in einer neuen Stadt ganz einfache Fragen auf: Wie bewegen wir uns? Wo kaufen wir ein? Wann und wie arbeiten wir? Was nehmen wir uns vor? Und vor allem: Wo ist der beste Spielplatz?
    Ein kleiner, schmutziger Stadtbach etwa, »Water of Leith«, an dem ein Radweg entlangläuft, wurde zu unserer Hauptverkehrsader und brachte uns samt Fahrradanhänger quer durch die Stadt. Wir buchten einen indischen Kochkurs, hatten schon wenig später einen Gewürzkoffer mit Garam Masala, Turmerik und Kurkuma und irgendwann mal, planten wir, sollte es auf jeden Fall in die Highlands gehen. Die Kinder ließen sich – egal in welcher Eskalationsstufe – beruhigen, wenn sie schottischen Rentnern beim Bowling zusehen durften, wie diese kinderkopfgroße Holzkugeln über unnatürlich glatten Rasen kullern ließen. Und am Sonntag probierten wir den Gottesdienst aus. Wie sieht diese mariastuartgestählte Katholiken-Diaspora innen drin aus? Spitzbögen, neugotisch, groß und bunt. Und in der Mitte, wirklich mittendrin, im Hauptschiff des Kirchengebäudes steht ein Glaskasten, eine Art riesiger Wintergarten, vielleicht acht auf sechs Meter Grundfläche, vier Meter hoch, mit Decke, schallisoliert: Der Kinderraum, ein bunter Flecken in der Kirchenmitte, in den der Gottesdienst über zuschaltbare Lautsprecher übertragen wird. Die Kinder können mitfeiern, können laut sein, können Kinder sein, es dringt trotzdem nichts nach draußen. Britischer Pragmatismus.
    Wir saßen zusammen mit anderen Eltern und Kindern dort im Stuhlkreis, klatschten bei den Liedern mit und trösteten, wenn mal ein Kind heulte. Dieses ganze Pssst-wir-sind-in-der-Kirche-Generve entfiel.
    Kurz vor der Wandlung, dem heiligsten Moment in der katholischen Messe – also dann, wenn aus einer Supermarkt-Oblate der Leib Christi wird –, wurden auf einmal schwere, violettfarbene Vorhänge vorgezogen und die Gottesdienstlautsprecher ausgeknipst. Wir spielten der »Obstgarten fällt um« und redeten mit den Kindern über die Bibelstelle, die diesen Sonntag dran war. Komisch, diese Vorhänge.
    »Ist das jetzt zu heilig für die Kinder?«
    »Nein«, sagte Janet, die Frau neben uns, die später eine gute Freundin von uns wurde, »nur zu langweilig.«
    Und sogar den großen, grünen Fleck auf der Landkarte gewannen wir für uns, den Berg. Er ist eine Art Raum-Zeit-Loch und liegt rund 50  Meter über Edinburgh, ein schmaler Pfad führt hinauf, dann wieder ein Stück hinab in eine kleine Senke. Die Hände noch schmierig von den Fish’n’Chips vom Take Away in der Pleasance Road, waren da plötzlich Weiher, Wiese, Hügellandschaft. Ich drehte mich um: Edinburgh war weg. Das erste Kind steckte bis zu den Knien im Sumpf, und 200  Meter weiter oben leuchtete Arthur’s Seat, der Lavasteingipfel, von dem manche sagen, das hier einst die Burg Camelot von König Artus gestanden habe.
    Noch nie war ich irgendwo so schnell draußen aus einer Stadt gewesen – und doch mittendrin, und das auch noch zu Fuß: Von den grauen Straßenzügen ins strahlend goldene Ocker. Aber irgendetwas

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