Aus Liebe zum Wahnsinn
turnen, rutschen und zanken am Flying Fox. Ich massiere mir den Fuß, drücke den Metallclip in die Dose. Es ist ein helles Lager: fad, wässrig, Geschmacksnote Weißblech. Natürlich habe ich vorher noch mal über den Verschluss gewischt. Was soll’s? Schmutziger als im Supermarkt wird das hier auch nicht sein.
In den kommenden Monaten werden wir immer wieder Tennent’s-Dosen aus der Wiese vor unserem Haus fischen. Sie sorgen für ein bisschen Glasgow in unserem Edinburgher Leben. Manchmal stehen sie kommentarlos im Kühlschrank, mal heißt es: »Ach ja, da lagen wieder zwei.«
Ich schlucke und fluche. Bier, das ist nicht wirklich das, wofür Schottland berühmt ist, oder? Ein ganzes Pint lang, lauwarm, nachmittags, 568 qualvolle Milliliter, ein guter halber Liter, 2 , 3 Units. Es gibt eine Regierungsempfehlung, nach der Männer nicht mehr als 3 bis 4 Units am Tag trinken sollten, zumindest nicht regelmäßig, für Frauen empfiehlt die Regierung 2 bis 3 . Dazu gibt es jede Menge eindrückliche Warnhinweise und Studien: Ab 3 Units etwa, haben Statistiker festgestellt, verdoppelt sich das Risiko einer Hüftfraktur. Klingt böse. Hüftfraktur, hier, zu Füßen des Flying Fox. Ich beschließe, lieber nichts zu riskieren und es bei 2 , 3 Units zu belassen. Sicher ist sicher.
Wenige Tage nach unserem Umzug, zu einem Zeitpunkt, zu dem in Deutschland noch nicht einmal die GEZ unsere neue Adresse gehabt hätte, erreichte uns Post vom National Health Service, der britischen Gesundheitsbehörde, dem NHS : Wir sollten doch bitte den Allgemeinarzt in unserem Viertel aufsuchen, Routinecheck, Dr. Holsborough.
Ich war baff: Ein Freund aus Manchester hatte kurz vorher mit einer gebrochenen Schulter drei Wochen auf einen Röntgentermin warten müssen. Anschließend sollte er sich noch ein wenig bis zur OP gedulden: um genau zu sein: vier Monate. Aspirin könnte erst mal auch ganz gut helfen, hatte der Arzt gemeint. Der Freund hatte nichts mehr gesagt und sich nach Calais eingeschifft. OP -Tourismus gehört zum System ärztlicher Versorgung in Großbritannien.
Und ausgerechnet ich, damals 26 Jahre alt, kerngesund, sollte im total überlasteten britischen Gesundheitssystem vorstellig werden? Innerhalb weniger Tage einen Termin bei Dr. Holsborough bekommen? Ja, sagte Ms Gormley am Telefon. Das ist beachtlich, dachte ich mir und marschierte los. Und ich finde das auch noch heute beachtlich, obwohl ich Dr. Holsborough nie zu Gesicht bekommen hatte. Stattdessen lernte ich Ms Gormley kennen, eine Frau ohne Titel am weißen Kittel, die meine Patientenakte anlegte, mit mir Fragebögen durchging: Allergien, Unverträglichkeiten, Vorerkrankungen.
»In guten und gesunden Zeiten den Patienten von morgen schon mal ansehen«, sagte sie. »Wie viele Units trinken Sie am Tag?«
Units? Units. Tjaha, also … – Ich hatte das bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört, wollte mir aber keine Blöße geben. Also Units. Ich dachte: Okay, du kennst Pints. Und die nette Ms Gormley fragte nach dem
täglichen
Units-Konsum. Also mussten diese Units eine dieser verrückt fitzeligen, britischen Untereinheiten sein. So was wie Inch, bloß in flüssig, dachte ich und rechnete.
»Around thirty.«
Bis jetzt hatte Ms Gormley jede meiner Antworten mit Lächeln und Nicken quittiert und notiert.
»Blinddarm?« Drin. Nicken, Lächeln.
Ein wenig Heuschnupfen. »Soso.« Lächeln.
»Penicillin vertragen Sie also gut.« Alles harmlos. Nicken, nicken. Aber jetzt, bei »around thirty« schien etwas grundfalsch gelaufen zu sein. Ms Gormley starrte mich an, ließ den Stift sinken, entschuldigte sich und verließ den Raum.
Es kostete mich einige Mühe, das Missverständnis gegenüber der aufgebrachten Ms Gormley und den alarmierten Kollegen, die mit Sozialarbeitermiene und geschäftigem Schritt nach einigen Minuten den Raum betraten, aufzuklären. Darzulegen, dass ich mich auf keinen Fall für ein Alkoholprogramm anmelden wollte und warum nicht. Und zu versichern, dass unsere beiden Kinder in bester Obhut sind. Ich kam mir vor wie in einem dieser Sozialdrama-Ken-Loach-Filme. Ich? Einer der Hauptdarsteller.
In Edinburgh fingen wir bei Null an, waren die, die im Supermarkt zwischen den Regalen Verpackungen drehten und schüttelten, unverständig Kleingedrucktes vor sich hin murmelten und an der Kasse im Münzgeld kramten. Am Anfang hätte ich am liebsten einfach meine Geldbörse der Kassiererin in die Hand gedrückt: »Da – suchen Sie
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