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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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auftauchten: Die Deutschen, die eine Bitte allzu ernst nehmen.
     
    »Mir ist heute was Komisches passiert«, sagt Viola. »Erzähle ich dir nachher.« Sie ist ganz verzückt und ich natürlich neugierig. Aber sie wolle jetzt zu Ende lesen, ich solle mich gedulden.
    Anfüttern und dann mit Warten abspeisen. Ich finde, Viola macht das genau richtig. Das Leben an den entscheidenden Stellen in die Länge ziehen, auf dem Grat halten, verkomplizieren.
    Das Warten hat einen schwierigen Stand. Vor allem maßloses Warten. Das ist heutzutage niemand mehr gewohnt. Früher, als Silikon noch ausschließlich in den Brüsten der Nachmittagsserienheldinnen verarbeitet wurde und nicht in Kuchenformen, Teigschabern oder Backmatten, als Postämter noch neben dem »Gafthof zur Poft« (natürlich Sütterlin) standen und keine kleinen, giftigen Servicezentren waren, da hat man sich noch einen Avocadokern aufs Fensterbrett gestellt, sich davorgesetzt und gewartet, bis die Serie vorbei war, der Postbeamte aus seiner Mittagspause zurückgekommen, der Avocadokern gesprossen war. Das macht heute keiner mehr. Wer heute warten muss, der will wissen, wie lang und wofür. Deswegen haben Softwareupdates einen Fortschrittsbalken; deswegen ist die Gründisziplin bei Ampelanlagen mit Sekundenanzeige so viel höher; deswegen beruhigt die Telefonwarteschleife: »Es sind noch drei Anrufer vor Ihnen in der Leitung«; deswegen hat der iPod keine Stopptaste mehr: Es geht sofort weiter.
    Die Ungeduld hat es weit gebracht. Sie ist zur Tugend geworden, hat sich als Möchtegern-Übel bis ins Bewerbungsgespräch hochgearbeitet.
    »Erzählen Sie uns doch mal drei schlechte Eigenschaften von sich.« Und los geht’s: »Ich bin selbstkritisch und eher perfektionistisch, und manchmal da kann es mir einfach nicht schnell genug gehen. Ich bin da schon ein bisschen ungeduldig. Ja, so ist das mit mir. Aber ich arbeite dran, ja. Und Schokolade – ja, das auch.« Ganz schlimmes Bewerbergrinsen.
     
    »Warum kaufst du Dosenbier?«, frage ich über die Kühlschranktür hinweg. »Und dann auch noch Tennent’s?« Viola legt sich zurück und das Buch zur Seite.
    »Das ist es. Rat mal, wo ich die zwei Dosen herhabe?«
    Ich schweige, lasse eine Dose zischen, trinke ein wenig von der Brühe, Weißblechgeschmack schüttelt meine Mimik, und genieße Violas großspurig siegessichere Stimmung. Die Vorfreude von jemandem, der jetzt gleich eine kleine, feine Anekdote zum Besten geben will, der der Wirklichkeit wieder etwas von ihrem Geheimnis zurückgeben kann, ein wenig Unerklärbarkeit in die Welt rettet.
    Kinder sind Meister darin, Magie in den Alltag zu pusten. Meine Mutter erklärte Gianna mal, dass Brennnesseln, wenn man sie zuvor schlägt, einige Minuten lang ungefährlich wären. So lange bräuchten die Pflanzen nämlich, bis sie neues Gift in die Blätter pumpen, die Brennhaare nichts weiter als zahnlose Tiger. Ein paar Tage später belauschte ich ein Gespräch von Gianna mit einer Freundin. Brennnesseln wären eigentlich vollkommen harmlos, tönte sie. »Du musst nur die Luft anhalten, wenn du sie berührst. Dann können sie nichts tun.«
    Die Welt mit Kinderaugen: Wenn-Dann-Abhängigkeiten sind nichts anderes als Zauberei. Neugierig unverständiges Staunen. Manchmal ist das Missverständnis schöner als das Verständnis. Ich habe mich zum Beispiel bis ins Jugendalter hinein gewundert, warum vor den Autobahnen immer diese Schilder sind mit dem Schwimmbad-Sprungturm: Ein weißer Turm auf blauem Grund.
     
    Ich solle nun endlich raten, sagt Viola. Ich nehme noch einen Schluck, schaue in Violas gespanntes Gesicht. Sie sagt: »Das war wirklich komisch heute, das mit der Dose. Ich verstehe das einfach nicht.« Es ist, als ob ich mit ihr im Kino säße. Natürlich hätte ich sagen können, dass ich den Film schon kenne, aber jetzt macht es mir Spaß, den Erstzuschauer zu mimen, simulierte Erfahrungslosigkeit, immer darauf bedacht, an den richtigen Stellen zu lachen, sich zu erschrecken, das Geheimnis nicht preiszugeben.
    Spätestens als ich ein paar Tage nach der ersten zwei weitere Dosen ziemlich genau an derselben Stelle von dem Rasenstück geklaubt hatte und ein Rätsel plötzlich eine gewisse Routine bekam, hätte ich Viola davon erzählen können. Vielleicht sogar müssen. Ich hätte von Schmach und Schimpf und Schmerz erzählen können, blauviolette Flecken zeigen, irgendeine Fußballerehre daherbehaupten können, um dann von meiner Dosenniederlage zu berichten.
    Die

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