Aus Liebe zum Wahnsinn
stimmte an der Idylle nicht, und ich brauchte ein wenig, um zu verstehen, was es war: Es waren zwar nicht viele Menschen hier, aber doch zu viele, um der Natur ihre Wildheit abzunehmen. Und tatsächlich: In der Ferne hatte ein Hundebesitzer dem Tier nicht mal die Leine losgemacht. Es ist eben doch ein Stadtberg.
Den Alltag richtig zu verkomplizieren, das bedeutet oft, die kleinen Dinge für sich zu entdecken: Es ist nicht günstiger, den Gallonen-Kanister ( 3 , 78 Liter) Milch zu kaufen, auch deswegen nicht, weil er sich nicht in die Kühlschranktür klemmen lässt. Für einen Hefeteig braucht man »selfraising flour«, weil es frischen »yeast« nicht gibt, selbsttreibendes Mehl also statt Hefe. Und bei Tesco wird das Großpaket mit verschiedenen französischen Käsesorten zwei Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums zum Schleuderpreis verhökert. Neben das »Best before«-Kleberchen kommt ein rotes »reduced to clear«.
Reduced to clear: Räumungsverkauf – für Käse. Ich finde das sehr ehrlich. Es sagt: Wir wollen diese Dinge hier nicht mehr in unserem Laden haben. Wir haben Angst, dass sie uns hier alles vollstinken. Bitte nehmt. Billig. Aber nehmt. In Deutschland schreiben sie »Sonderangebot« und meinen das Gleiche. Vielleicht verschreckt diese Ehrlichkeit aber auch. Eine schottische Freundin etwa weigert sich, Dinge am Ablauftag noch zu konsumieren, egal, wie gut sie noch riechen, schmecken oder tatsächlich sind. »Schließlich«, sagt sie, »steht da ›best
before
‹ und dann das Datum.« Man müsse also vom aufgedruckten Tag immer mindestens einen abziehen, um auf der sicheren Seite zu sein.
Bis zu welchem Alter sollte man sich Gedanken um das Haltbarkeitsdatum machen? Bei meiner Großmutter, 96 , eigentlich eine feine Dame, die ihre Möbel bei Radspieler kauft und eine ausgesuchte Garderobe besitzt, ist es keine Frage des Alters. Neulich habe ich bei ihr im Kühlschrank eine zumindest von außen tadellose Olivencreme entdeckt: mindestens haltbar bis Oktober 1983 . Ich durfte sie nicht entsorgen. Da stehe ja »
mindestens
haltbar« drauf. Mindestens. Dann sagte meine Großmutter: »Ich bin der lebende Beweis, dass Schimmel unschädlich ist.«
Neben den kleinen, oft supermärktlichen, gibt es auch die großen, existentiellen Dinge: Nach drei Wochen hatten wir einen Kindergartenplatz für Gianna. Einmal die Tennent’s-Wiese kreuzen, an der Queen Charlotte Street entlang, dann durch den Claremont Park, an den Rentner-Bowlern vorbei. Der Kindergartenplatz kostete nichts, hatte einen irren Fuhrpark an nie zuvor gesehenen Drei-, Zwei-, aber auch Vier- und Einrädern, einen Sandkasten im Gruppenraum, einen iMac, mit dem sich niemand auskannte und der entschieden zu nah am Indoor-Sandkasten platziert war, und einen unglaublich hässlichen, betonierten Hof. Alle drei Monate lud die Erzieherin, Ms Walker, die Eltern zum Grillen ein. Wir stellten ein paar Bierbänke raus, nicht in den schönen Park, sondern auf den betonierten Hof, legten Würste aufs Feuer und hörten uns Kindergartengeschichten an.
Ms Walker war knapp 60 Jahre alt. Sie hatte eine junge Kollegin und zwei, die ich auf Mitte 40 schätzte. Ältere Erzieherinnen haben zwei große Vorteile gegenüber jüngeren: Erstens haben sie schon viele Beulen und aufgeschlagene Knie heilen sehen. Und zweitens kommen sie den Kindern nicht mehr hinterher. Was machen Erzieherinnen in Deutschland eigentlich, wenn sie älter werden? Ms Walker hatte eine geradezu urgroßmütterliche Gelassenheit, war aber gleichzeitig, weil sie den Kindern eben nicht mehr hinterherkam, auf eine große Autorität angewiesen, die sie voll und ganz ausfüllte. Ms Walker war somit eine grandiose Kombination aus allem.
Bei einem dieser Beton-Grill-Abende kündigte sie einen Erzieherinnen-Streik an. Sie glaubte zwar nicht an den Erfolg, aber sie wollte auch keine Streikbrecherin sein, schließlich hatte sie seit Jahrzehnten keine Gehaltserhöhung mehr bekommen.
»Nächste Woche wird also mal wieder gestreikt. Wollt ihr stattdessen zum Putzen kommen?« Keiner konnte es so recht fassen.
»Seit Jahren keine Gehaltserhöhung!«
»Bei der Belastung!«
»Bei der Inflation! Unmöglich!« Und ja, natürlich käme man zum Putzen. Ob der Partner mitdürfte. Was man mitbringen sollte.
Eine Woche später waren wir die einzigen, die die Abstellkammer ausmisteten, Matschhosen wuschen, Sand aus dem iMac klopften. Ms Walker machte ein ganz verdutztes Gesicht, als wir
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