Aus Liebe zum Wahnsinn
Wahrheit ist: Ich wollte dieses Rätsel nicht teilen. Ich wollte mein kleines Privatgeheimnis. Etwas Unerzähltes. Sich Unerzähltes zu bewahren ist das Gegenteil von dem Gefühl, etwas zum zweiten Mal zu erzählen. Der Repetitor in einem ist grauenhaft: Sich selbst dabei zu ertappen, eine Geschichte zu wiederholen, dieselben Worte zu benutzen, sich selbst zu langweilen. Und vielleicht den anderen noch dazu: Hatte ich die Geschichte nicht auch genau dem schon mal erzählt? Und schont mich der jetzt nur, indem er nichts sagt? Das Zeitfenster, innerhalb dessen man den Sprecher auf Wiederholungsgeschichten hinweisen kann, ist wenige Sätze schmal. Verpasst man den Ausstieg, muss man die ganze Geschichte anhören. Routinierte Anekdoten-Wiederholer feuern deswegen gleich relativ zu Anfang ein prophylaktisches »Hab ich schon erzählt« ab, und zwar mit halbem Fragezeichen dahinter.
»Keine Ahnung, wo du die herhast«, sage ich wahnsinnig lässig. »Vielleicht von Tesco?« Ich schaue fragend auf. »Ein Sonderangebot von dem kleinen, indischen Getränkehändler?« Sie grinst, schüttelt den Kopf. Jetzt ist es so weit, jetzt ist es Zeit, sie mit einem Hieb niederzustrecken. »Oder warte: Von der Wiese vor unserem Haus, die mit dem kleinen Steinmäuerchen?«
Viola starrt mich an. So etwa muss sich Rumpelstilzchen gefühlt haben, als die Müllerstochter am dritten Tag auf einmal seinen Namen erriet.
Janet kommt eigentlich aus New York. Sie hatte einen Schotten geheiratet. Einen richtigen mit Rock und Glatze, nichts drunter und kleinem Sprachfehler. Und sie ist dann in Edinburgh gelandet. Irgendwann saß sie bei uns in der Küche, atmete aus. Tiefer als nötig. Auch sie hatte zwei kleine Kinder: Lachlan und Ruari, zwei Jungs, die gerade Gianna und Elena zeigten, wie britische Hooligans mit Kinderzimmern umgehen.
Janet zog Kopien aus ihrer Handtasche. Die letzte Betriebsfeier, direkt im Büro. Sie habe selten so viel getrunken in ihrem Leben, sagte sie, und sei am Ende doch diejenige gewesen, die darauf geachtet hatte, dass nichts Schlimmeres passierte. Sie hatte dann zumindest noch die Kopien aus dem Kopiererschacht genommen. Wir blätterten. Lippenstiftverschmierte Gesichter, die sich auf eine Glasplatte drücken, dann blankgezogene Brüste. Waren ihre auch dabei? Ich stellte mir vor, wie auf einem Büroflur Menschen sich an irgendetwas Irres erinnerten, was sie mal gehört hatten, das T-Shirt hochzogen und sich in den Kopierer klemmten. Das Irre ins Leben holen – geht das so?
Janet sagte, auf der letzten Party habe es sogar einen fotokopierten Hintern gegeben, blank. Ob das nicht total gefährlich wäre, fragte ich alter Spaßverderber. »Wenn das Glas bricht?«
Janet zuckte mit den Achseln, hörte dem Rauschen umgedrehter Legoboxen zu, verdrehte die Augen. »Ruari!« Dann deutete sie auf Violas Bauch: Sie könnte das ja nicht. Ein Drittes. Dann seufzte sie schon wieder.
Ob sie zum Essen bleiben wollte, fragte Viola. Janet nickte. »Pizza?« Janet zögerte. »Ich mag Pizza ja eigentlich nicht.« Jetzt
müsste
sie bleiben, sagte Viola. Denn nun ginge es um die Ehre. Klar: selfraising flour, cheddar und so weiter – alles nicht einfach hier. Und trotzdem: Das wäre ein Familienrezept, original. Und das schmeckte jedem.
Die Kinder sprangen von irgendwo hoch oben aufs Bett runter. Regal? Schrank? Vorhangstange? Man hörte immer mal wieder dumpfe Aufschläge, dann Jubelschreie. Bislang heulte keiner.
Ein drittes Kind, sagte Janet und seufzte wieder. Sie könnte sich das nicht mal wirklich vorstellen. Obwohl ihre Wohnung doch zwei Zimmer mehr hatte als unsere. Aber die Zumutung, das Chaos … Wo das denn noch Platz haben sollte? In unserer Wohnung, in unserem Leben?
Ich walkte den Teig, war froh über die Handarbeit. Hatte sie recht? Lassen wir uns einlullen? Fluten wir unseren Alltag mit Stress, damit wir das Leben nicht hören müssen? Immer genug Remmidemmi um sich herum organisieren, damit solche Fragen, was man denn nun eigentlich wolle, worum es einem wirklich gehe, erst gar nicht auftauchen? Sind wir nichts weiter als Erfüllungsgehilfen unserer Kinder? Wofür noch einen eigenen Willen? Es fuchteln ja schon so viele andere in unserem Leben herum. Ich sah Viola ins Gesicht: Sie ließ das kalt. War eben Janet, anderes Model, andere Baustelle, andere Probleme. Henry James lässt seinen Helden in »The American« resümieren: »Oh I have been my own master all my life, and I’m tired of it.« Hat er
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