Aus Liebe zum Wahnsinn
zum Abendessen einladen. Die Frau am Flughafenschalter verblüffen:
»Window or aisle?«
»Mitte, bitte!«
Edinburgh ist das Unvorhersehbare, das Komplizierte bereits in die Geodaten eingeschrieben: Ganz egal wie der Himmel aussieht, man muss immer eine Regenjacke mitnehmen. Das ist lästig, zugegeben, aber gilt genauso auch umgekehrt. Ganz egal, wie traurig, grau und verregnet es gerade gegen Fenster trommelt: Zieh was Hübsches drunter, vielleicht wirst du es bald brauchen können.
In Ward 119 half mir am Ende ein Missverständnis. Mary saß auf einem blauen Gymnastikball, wippte, das Gummi schmatzte auf ihrer Haut. Ein Ventilator blies ihre Haare aus dem Gesicht. Wenn eine Wehe kam, nahm sie einen Schlauch in den Mund: Lachgas, gegen die Schmerzen. Mary atmete tief ein. Dazwischen war alles ganz normal im Kreißsaal Nummer elf, mit Brandon, mit Mary, mit mir. Wir redeten über Portobello, das kleine Sandstrandstück in Edinburgh, über Kindernamen und Fahrradfahren in der Stadt, darüber, wie komisch es für mich war, ohne ordentliches Meldesystem zu leben. Ich erzählte, dass ich zwei verschiedene Rechnungen habe vorweisen müssen, nicht älter als einen Monat, die auf meine Adresse ausgestellt waren, nur um eine Clubkarte für den Videoverleih zu bekommen: Absurd! Und davon, dass ich auf dem Rathaus, während ich die Formulare für die Befreiung von der Council tax, der Gemeindesteuer, ausfüllte, von der Beamtin doch tatsächlich nach meinem Visum gefragt wurde – Hallo? Europäische Union? Reisefreiheit? Geht’s noch? – , als sich herausstellte, dass ich eben doch kein Arzt im Praktikum, sondern Philosophiestudent aus Deutschland war, der eine kleine, schmutzige Recherche machte. Die Stimmung strauchelte. Ich machte mich darauf gefasst, gleich rauszufliegen. Hundeblick. Dann: Ich darf bleiben.
Bis zur Geburt dauerte es noch Stunden, insgesamt 13 . Ich inhalierte selbst einiges an Lachgas, das dort im Kreißsaal direkt aus einem Hahn an der Wand kommt, so wie in deutschen Kliniken der Sauerstoff. Es gab starke Wehen, Mary wimmerte, grinste aber auch immer wieder zwischendurch. Schwester Elaine tauchte hin und wieder im Zimmer auf. »Nur Mut.«
Als die Schmerzen schlimmer wurden, erklärte sie noch mal das mit dem Entonox, dem Lachgas.
»Sofort loslegen, wenn sich die Wehe ankündigt, einfach wegatmen, diese Schmerzen.« Und Elaine kam wieder, als die Schmerzen schließlich noch schlimmer wurden und Brandon voller Graus auf seine Frau schaute. Elaine: »Wollen Sie Heroin?«
Ja, tatsächlich. Sie sagte »Heroin«. Ich habe dreimal nachgefragt.
»Das ist ja ganz rein«, erklärte Elaine, »ganz ungestreckt. Nicht dieses Zeug von der Straße.«
»Ja, und macht das nicht abhängig?«
»So oft hat man schließlich keine Geburt zu verkraften«, antwortete Elaine. »Heroin ist einfach ein gutes, wirksames Schmerzmittel.«
Später habe ich gegoogelt: Großbritannien ist das einzige Land, das Heroin legal herstellt und als Schmerzmittel einsetzt, insgesamt etwa 300 Kilo pro Jahr.
Hier würde also in ein paar Monaten auch Viola liegen, würde – vom Lachgas benebelt – wohl auch gefragt werden, was sie so gegen die Schmerzen haben will. Sicher, wir waren nicht in Uganda, aber vielleicht machte es mich ja gerade deswegen so wacklig. Wieder ein Bereich des Lebens, der raus war aus der Eindeutigkeit, aus der Sicherheit zu wissen: Was ist gut und was nicht?
Meine Mutter, wie gesagt selbst Mutter von sechs Kindern, fragte mich nach der Geburt meiner ersten Tochter, wie man denn momentan die Neugeborenen so hinlegen würde. Rücken, Bauch, Seite – sie hatte alles erlebt, und immer wurde es ihr als die eine, große und unumstößliche Wahrheit präsentiert. Mama, Studien überholen sich eben, dachte ich damals, »Stand der Wissenschaft« und Pipapo.
»Seite – das ist nun mal das einzig Wahre, liebe Mama«, antwortete ich, damals, als Gianna noch im Stubenwagen lag. Zwei Kinder später, in Edinburgh, hieß es plötzlich: Auf den Rücken, das sei das Ergebnis einer neuen Studie, ein Drittel des Bettes über dem Kopf müsste frei bleiben, kein Kissen. Nichts anderes, auf keinen Fall. Ansonsten drohte cot death, plötzlicher Kindstod.
Mary wollte kein Heroin. Sie entschied sich für eine normale PDA . Die Geburt selbst dauerte nicht lange, vielleicht eine Viertelstunde. Die Entspannung zwischen den Wehen verschwand, eine Ärztin kam, es wurde hektisch. Und als der Kopf fast zu sehen war,
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