Aus Liebe zum Wahnsinn
herrschte mich die Ärztin plötzlich an – mich, der sich in Krankenhauskluft mit Stift und Block und geschocktem Gesichtsausdruck immer tiefer in den Sessel grub, die gespreizten Beine von Mary zwei Meter frontal vor mir, das erste und das letzte Mal auf dieser Seite der Geburtsszene: »Sitz nicht so doof rum! Komm und pack mit an: Hier, nimm das Bein!« Ich überlegte noch kurz, darauf hinzuweisen, dass ich doch nur ein kleine, schmierige, aber verdammt wichtige Recherche machte, die mich eine Bewerbungsrunde weiterbringen sollte, dass ich doch nur George, der Observer war, eben nur »Observer«, dort stand es doch, schwarz auf Krepp …
Ich ließ es dann aber doch lieber. Und so hielt ich Marys Bein in die Luft, zur Seite, wohin auch immer mich die Ärztin dirigierte.
Am Ende lag da ein Baby, ein paar Momente alt, im Kreißsaal elf, röchelte, hustete sich Fruchtwasser ab – ein Junge, auf einen Namen hatten sich die Eltern noch nicht einigen können. Sie wussten auch nicht, ob sie Sohn oder Tochter bekämen. »Es ist nicht üblich, sich das vorher sagen zu lassen«, erklärte Elaine. Es roch nach Zartbitterschokolade, Blut und dem Talk der sterilen Handschuhe. Ich gratulierte Mutter, Vater, streichelte den Babyhandrücken, verdrückte mich.
Ich war fast 20 Stunden auf den Beinen gewesen, musste eigentlich nur noch ins Auto fallen, zu Hause ein Bett suchen, und doch wurde ich diesen Kreißsaalrausch nicht los. Ein Taumel, in dem der Rest der Welt abtaucht, unerheblich wird. In dem es nur noch um dieses eine Leben geht, das da plötzlich auftaucht, anfängt. Die ersten Momente einer neuen Geschichte: Ein kleiner, neuer Mensch, der gerade die größte Anstrengung seines Lebens hinter sich hatte, der noch nicht einen Moment seines Lebens auf dieser Welt ohne mich verbracht hatte und den ich doch nie kennenlernen werde. Von dem ich nicht einmal wusste, wie er hieß, und es auch nie erfahren werde.
Ich hatte außerhalb des Krankenhausareals geparkt, da ich keine Gebühr zahlen wollte. Der Morgen dämmerte, Tau perlte auf Lack und Windschutzscheibe. Ich schnallte mich an, kontrollierte die Seitenspiegel, da fiel mein Blick auf ein Plakat, das jemand auf das Fenster geklebt hatte. »Only neighbourhood parking« stand darauf. Es war auf das Fenster der Beifahrertür geklebt, dort, wo in britischen Autos der Fahrer sitzt, mit richtigem Kleister. Der Morgentau hatte das Papier aufgeweicht. Ich konnte es ganz einfach abziehen.
Ich lasse mich auf die Spielplatz-Bank fallen. Mein Fuß verletzt, den Kopf fragenvoll: Wie, um Himmels willen kommt eine ungeöffnete Bierdose auf das Rasenstück vor unserem Haus? Ausgerechnet hierher? Nach Leith, mitten in dieses etwas schlampige Viertel, sozialer Wohnungsbau zwischen Hafenarchitektur, mitten in diese Billigwohngegend, dieses Trainspotting-Milieu?
Ich drehe die Dose in meiner Hand. » 2 , 3 units« steht da. Units, das ist der britische Versuch, ein wenig Überblick in die Sauferei zu bekommen. Man trinkt und trinkt, und anstatt mit Millilitern oder Promille durcheinanderzukommen, zählt man die Units einfach an den Fingern ab. Ein Cocktail etwa hat um die 4 Units, eine Flasche Wein um die 10 . Wer unbedingt noch weitertrinken will, kann auch noch die Fußzehen zu Hilfe nehmen. »Brewed in Glasgow« steht neben den Units, ein schottischer Bestseller. »Hauptstadt der Morde«, titelte der Guardian, »Europe’s knive capital«, schrieb mal der Independent. Glasgow, wo Trainspotting in Wahrheit gedreht wurde, wo Alkohol und Zigaretten die Lebenserwartung in manchen Vierteln auf Kongo-Niveau drücken, 53 Jahre, so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa. Forscher nennen das den »Glasgow-Effekt«.
Haben sie recht? Ist die Stadt schuld? Macht uns die Stadt, in der wir leben, zu anderen Menschen? Brauchen wir eine Geopsychologie der Städte? Gibt es einen Erfurt-Effekt? Ein Leipziger Fazit? Ein Ravensburg-Resümee? Was ist mit der Wiesbaden-Wirkung? Klar, bin ich ein wenig bräsig, dickfellig, langweilig – schon gut. Andererseits: »Ich kann absolut nichts dafür. Das ist die Stadt. Ich lebe nun mal in Baden-Baden. So sorry!« Und was machen all die anderen Städte mit uns? Frankfurt? Diese Durchgangsstadt, die ständige Umzieherei der Leute dort. Wie viel Bank verträgt meine Laune? Oder Duisburg? Wo andere Städte plötzlich im öffentlichen Nahverkehr auftauchen. Wo ich gar nicht mehr weiß, wann ich drin und wann ich draußen bin.
Gianna und Elena
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