Aus Liebe zum Wahnsinn
Robin Hood? Ich schöpfte ja nur den Überfluss ab. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich die Beute, statt sie an die Armen weiterzugeben, für mich behielt. Gut, ein – wie ich heute durchaus einsehe – nicht ganz unwesentliches Detail, das uns beide, also Robin Hood und mich, bei allen Gemeinsamkeiten, sagen wir, zumindest unterscheidbar machte.
Und es ist eigentlich genau das, was den Hoeneß-Bub in mir charakterisiert. Er taucht immer dann auf, wenn ich mir etwas schönrede. Greenwashing der Seele. Ich weiß: Falsch, tut man nicht, und kaue so lang darauf herum, bis es schon irgendwie passt. Also etwa: Ich hatte mich einfach so sehr geärgert, dass die Granatapfelpresse irreparabel kaputt war, dass ich dem Ärger mehr Raum gegeben habe als meiner Moral. Und wahrscheinlich benutzen die die eh nie. Eben. Was brauchen Palastbewohner überhaupt so eine Presse?
Ich war neun Jahre alt, es war vormittags, die letzten Lücken im Paninialbum waren gerade verdaut, genauso wie das verlorene WM -Finale, als auf einmal ein riesiger Schäferhund vor unserem Wohnzimmerfenster auftauchte und mich anglotzte. Er draußen, ich drinnen. Mein Mund offen. Seiner geschlossen. In meinem: Haferflocken, die herausfielen. In seinem: einer unserer Hasen, der sich nicht mehr rührte.
Der Hund war – wie wir kurz drauf erfahren sollten – der Schäferhund vom Hoeneß. Und der Hase in seinem Maul war nicht der einzige, den er erwischt hatte.
Das hatte Folgen.
Erstens durften meine fünf Brüder und ich jahrelang kostenlos ins Bayernstadion. Zweitens verstand einer meiner Onkel das als Freibrief, sich an Silvester danebenzubenehmen.
Schräg gegenüber vom Hoeneß-Anwesen gab es damals eine Baustelle. Im Kran hatte der Bayernmanager ein gigantisches Feuerwerk aufbauen lassen. Hunderte Knallkörper, Lichteffekte, Raketen. »Von einer Asienreise«, hieß es in der Schule. Auf dem abendlichen Verdauungsspaziergang kamen wir samt Verwandtschaft auch beim Hoeneß-Anwesen vorbei. Und es war mein Onkel, der kurzerhand die Lunte zündete. Blitze, Funken, Knaller – mehrere spektakuläre Minuten lang – um 22 Uhr. Kurz bevor es vorbei war, kam der Hoeneß-Bub aus dem Haus. Er blickte auf den Kran, sah die letzten Funken, hörte die letzten Böller. Er reckte die Faust über den Kopf, brüllte. Zuerst verstanden wir ihn gar nicht wegen der Böller und weil wir ja auch auf der anderen Straßenseite standen wegen des Spektakels. Dann, als alles vorbei war, hatte er sich bereits auf den einen Satz versteift: »Wir verklagen euch!« Sein Vater lachte nur und hielt den Hund zurück.
Mein Verhältnis zu Tieren war von Anfang an schwierig. Das liegt an Mama. Mama impfte uns von frühester Kindheit: »Es gibt zwei Dinge, die wirklich gefährlich sind: Zigaretten und Haustiere.«
»Komm schon, Mama, was soll an einer Meersau gefährlich sein?«
»Dann sind sie eben bescheuert«, meinte Mama.
Mama war ein Schutzwall. Sie konnte zum Beispiel spontan und glaubwürdig losheulen, sobald ich oder einer meiner Brüder Rauchgeruch mit nach Hause brachte.
»Aber, Mama, ich wurde angeraucht.« Es half nichts. Sie heulte.
»Jede einzelne Zigarette kann man auf eurem Röntgenbild sehen.« Schon vor Jahren hatte sie gewarnt: »Eine einzige Zigarette genügt, und ihr seid abhängig.« Später kannte sie uns besser. »Wer mit 18 Jahren nicht raucht, bekommt 1000 Mark von mir.« Das ging dann ziemlich gut.
Bei den Haustieren aber hatte ich von Anfang an meine Zweifel. Meine Mutter erzählte zwar gern und plastisch von traumatischen Nahhunderfahrungen. Sie zeigte Bisswunden, eingehandelt als Teenager, erzählte Horrordetails vom Hoeneß-Hund. Sie verschanzte sich hinter uns Kindern, selbst wenn die Kläffer klein und angeleint waren. Sie wies Spendensammler für Tierheime und Koalas barsch zurecht: »Ich füttere Kinder, keine Tiere.« Heute glaube ich, in Wahrheit wollte sie nicht
uns
vor überflüssigen, verstörenden oder gar gefährlichen Haustieren beschützen, sondern umgekehrt: Sie wollte die
Tiere
vor uns beschützen.
Das, um es offen heraus zu sagen, hat nicht so gut geklappt. Wir hatten einen enormen Haustier-Durchsatz. Unter anderem 17 Hasen, 32 Hühner, sehr viele Kaulquappen, 2 Fische, 3 unterernährte Igel, die bei uns im Wäschekeller überwintern durften, 1 Vogel von der Nachbarin, 1 wilde Krähe mit verkrüppelten Füßen und 1 Venusfliegenfalle, die wir zum vollwertigen Tier umerzogen.
Der Begriff »Haustiere« ist
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