Aus Liebe zum Wahnsinn
tanzen und hampeln in einem Baucontainer, haben von dort ein türgroßes Holzbrett auf die Straße geworfen.
Der Knall hat mich im Dämmerzustand halbwachen Bewusstseins erwischt, wenn der Kopf nicht mehr weiß, was groß und klein, was laut und leise ist. Etwa eine Katjuscha-Rakete? Hier in Tel Aviv?
Quatsch.
Im Dämmerzustand bin ich wie ein junger, unerfahrener Yorkshire-Terrier, der laut bellend auf den großen Schäferhund zuläuft. Dich mach ich fertig, du mieser winziger Punkt am Horizont, du kleine riechende Fellwurst, denkt er sich. Etwa ab Rentner-Stockwurfweite realisiert der junge Wilde, dass da etwas nicht ganz stimmen kann mit seiner leichten Beute. Er hadert, wird immer unsicherer, schließlich dreht er noch in der Bewegung ab und im sehr engen Wendekreis um. Dann gibt er wieder Vollgas, in die andere Richtung.
Der Mensch hat’s im Leben oft nicht so leicht wie der Hund. Ein bisschen leinenloses Gassigehen, sich dem Pöbeln und Balzen überlassen – das reicht einfach nicht für Yorkshire-Terrier-Momente, für diese hirnbefreiten Intimitäten mit sich selbst, für die Magie der Unabgeklärtheit.
Es ist wie Stühlekippeln, bloß mit dem Kopf. Alles wird fraglich, unselbstverständlich, kann jeden Moment kippen. Und die Sinne herrschen ohne Kontext. Eine Fliege ganz dicht vorm Auge mutiert im Kopf zur Amsel. Das Reiben der gestärkten Bettwäsche zum heranrollenden Donner.
Fühlt sich so Verrücktsein an?
Israel ist perfekt, um den Yorkshire-Terrier im eigenen Leben zu entdecken. Ständig sieht man neue Dinge: Plastikplanen-Siedlungen in der Wüste; Märtyrer-Leichenzüge; baumhohe Mauern; Läden, an deren Eingang man den Inhalt seiner Taschen auf dem Tisch eines Sicherheitsmanns ausleeren muss. Was das alles bedeuten soll? Keine Ahnung. Aber man bellt schon mal los.
Viola zieht mich vom Dachrand weg.
»Wie blöd das wäre! Vom Parkdach fallen!« Sie schüttelt den Kopf. »Ausgerechnet in Israel.«
Wir waren seit zwei Wochen in Israel. Die vier Kinder balgten im Sand, bauten Burgen, übten Laufen. Das Meer rauschte vor sich hin, es war Shabat, Viola und ich tranken Café Hafuch, gammelten in den Tag hinein.
»Hafuch bedeutet ›umgedreht‹«, erklärte uns das wahnsinnig lockige wie hübsche Mädchen, das mit glasigem Blick und in Flipflops die Getränke über den Sandstrand balancierte. »Das Verhältnis von Kaffee und Milch ist
umgedreht
.«
»Super«, sagte ich und trank ein paar Schlucke. Im Grunde genommen ist es nichts anderes als Latte macchiato, gesprenkelte Milch.
Elena, 4 , fütterte Lorenzo, fast 1 , gerade mit Sandkuchen, als ein junger israelischer Soldat mit seinem Mädchen im Arm an uns vorbeischlenderte. In Uniform, das M 16 -Gewehr über die Schulter gehängt. Lässig, lachend. Die Kinder unterbrachen ihr Spiel, blickten den beiden nach. Ganz leise fragte Gianna, 5 : »Papa, was macht der Jäger mit dem Mädchen da?«
Wie viel Waldorfidylle müssen Eltern um die Kindheit ihrer Kinder bauen? Wie viel Welt dürfen sie ins Ritter- und Prinzessinnenparadies hineinlassen? Wie viel müssen sie vielleicht sogar hineinlassen?
Auf dem Weg nach Jerusalem im Egged Bus Nummer 405 saß ich zusammen mit Lorenzo neben einem israelischen Soldaten. Busfahren in Israel hat nichts Tollkühnes, ist normal. Trotzdem tauchen im Kopf ungeübter Israel-Busreisender umgehend die Nachrichtenbilder von damals auf, zweite Intifada, die Bilder von vor knapp zehn Jahren, als oft mehrere Busse pro Woche von Selbstmordkommandos in die Luft gesprengt wurden.
Ich war ein ungeübter Israel-Busreisender. Ungeübt, larmoyant, schicksalsversessen. Ich machte ein Foto von Lorenzo und stellte mir vor, wie später Spezialisten irgendeiner Antiterroreinheit die Speicherkarte der Kamera aus einem Meer aus Bus- und Körperteilen isolieren würden. Ich stellte mir vor, dass dieses Bild das Letzte wäre, was von uns Zweien übrig bleiben würde. Unser kleiner, strohblonder Viertelitaliener, der an einem israelischen Soldaten hinaufblickt. Und ich auf der anderen Seite der Kamera: Wie war es, durch den Sucher dieses Kind zu sehen, diese Neugierde?
Okay – sich die Welt ohne sich selbst vorzustellen, Freunde, Bekannte, Familie, die alle mit verheulten Augen auf die Leerstelle glotzen, die man selbst zu hinterlassen hofft, hat etwas extrem Neurotisches.
Aber in Zeiten der Not, wenn einem die Zweifel bis zum Hals stehen, kommt es einer psychischen Erste-Hilfe-Leistung gleich. Ein schneller Ego-Kick,
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