Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
Vom Netzwerk:
irreführend, denn ins Haus durften nur die Igel und die Fische. Die anderen mussten in den Garten, ins Gehege, in Ställe, Brunnen oder Blumentöpfe.
    Unser erster Hase gehörte meinem älteren Bruder. Er war schneeweiß, mümmelte gern, roch immer nach Stall und Geborgenheit. Mein Bruder gab ihm den schönen Namen »Hase«. Das war praktisch, man wusste sofort, wer gemeint war. Mein Bruder kümmerte sich rührend um das Tier, fütterte es, putzte seinen Stall, besprach es mit Erstklässlerproblemen, begrüßte Hase noch vor dem Frühstück. Er wollte alles mit ihm teilen.
    Eines Tages sollten Hase und mein Bruder zusammen aufstehen, exakt zur selben Uhrzeit. Mein Bruder wollte das so. Hase, glaube ich, eher nicht. Mein Bruder stellte also einen Wecker in den Stall. Einen von diesen alten Aufziehdingern, die oben zwei Schellen haben und einen Klöppel dazwischen, der zum eingestellten Zeitpunkt wie wahnsinnig das Rütteln und Scheppern anfängt. Mein Bruder musste um 6  .  45  Uhr aufstehen. Noch vor dem Frühstück wetzte er wie gewohnt in den Garten, um Hase einen guten Morgen zu wünschen. Hase lag im Stall. Tot. Herzinfarkt. Ermordet von einem Wecker.
    Man muss sich das vorstellen. Ein Hase, flauschiges Fell, unschuldig, schneeweiß, hoppelt abends guten Mutes in seinen Stall. Vielleicht hatte er einen harten Tag hinter sich, hatte nur mieses, trockenes Gras gefunden, ihn grämen die Probleme seines Herren, die Streitigkeiten mit der Lehrerin, mit dem Sitznachbarn, der Pausenaufsicht. Vielleicht kann er nicht gleich einschlafen, macht sich Sorgen und fällt erst tief in der Nacht in einen unruhigen, hasenfüßigen Schlaf.
    6  .  44  Uhr: Die letzte Minute im Leben unseres kleinen Helden bricht an. Der verriegelte Stall, bisher der Ort, der ihm immer Schutz gab, Hort seiner Zuflucht – vor schlechtem Wetter, wilden Tieren, streichelwütigen Kinderhänden – , er wird sich in wenigen Sekunden in Kriegsgebiet verwandeln. Und es wird einen Toten geben.
    Der Wecker im Hasenstall war für mich traumatisch. Seitdem habe ich mich nie wieder um 6  .  45  Uhr wecken lassen. Diese Zeit ist tabu. Und natürlich wird auch niemand aus unserer Familie je einen Schäferhund halten.
     
    Aber immerhin – Hoeneß-Bub hin, Hoeneß-Bub her – hatten wir jetzt eine Saftpresse. Und wir sammelten weiter. Dinge für die Zeit nach dem Palast. Zum Beispiel den Teppich, bei dem wir uns noch nicht sicher waren, ob er im Bad landen würde oder vielleicht als Fußabstreifer vor der Tür oder doch wieder im Müll. Egal: Erst mal in die Palast-Waschmaschine damit. Ein Fehler.
    Der alarmierte Fachmann zog ein Knäuel Teppichfasern aus dem Filter, probierte, fluchte. Dann sagte er, er müsse das Gerät mitnehmen.
    »Okay«, sagten wir und erwarteten Terminkalenderblättern: wann er sie denn abholen könne?
    Es gab schon immer zwei Dinge, die beim Umzug – da konnte man noch so studentisch sein – nicht von den Kumpels getragen wurden: die Waschmaschine und das Klavier. Da müssen einfach bandscheibenvorfallversicherte Fachleute ran, und zwar mit Schwerlastzügen und Gurtsystemen. Aber er, der starke, braungebrannte Fachmann, schulterte ein selbstgebautes Rückentragegestell und nahm atlasgleich die tonnenschwere Maschine Huckepack.
    Einen Menschen, der gerade allein eine Waschmaschine trägt, zu bitten, doch noch eben kurz stehen zu bleiben, »nur ganz kurz, wirklich«, man wolle nur schnell den Fotoapparat holen, der liege gleich da drüben, »nur ein Momentchen, ehrlich« – das ist schon ein Grund, für den Rest der Menschheit als Abschaum zu gelten.
    Und das mit Recht.
    Wer so etwas tut, ist ein schamloser Gaffer, der sich an menschlichem Leid labt, dem Anekdote und Beweisfoto wichtiger sind als der Mensch selbst.
    »Unmöglich«, würde der Hoeneß-Bub sagen.
    Ich mag das Foto sehr gern. Es zeigt einen Menschen, der sich um ein Fotogesicht bemüht, sich ein Lächeln ins Gesicht pumpt, an dem aber einfach – da hilft es nicht drumherumzureden – eine Waschmaschine am Rücken zerrt. Jemand, der gleichzeitig mit Erschöpfung und Stolz ringt.
    Nicht genug übrigens, dass der Teppich die Waschmaschine im Würgegriff hatte. In einem unanständig rüden Zweikampf hat die Waschmaschine nämlich gleichzeitig auch den Teppich zur Strecke gebracht, ungefähr so wie die Söhne des Ödipus in der Schlacht um Theben sich gegenseitig niedergestreckt hatten. Der zerschredderte Teppich Eteokles, klammheimlich entsorgt, und die

Weitere Kostenlose Bücher