Aus Liebe zum Wahnsinn
noch einmal Mittelpunkt: Wer wird alles an meinem Grab stehen? Wer wird weinen? Und wie sie alle weinen würden. Wer traut sich zu lachen? Und wer von denen ist ehrlich?
Man kann das Beerdigungsspiel auch andersrum aufzäumen: Was in meinem Leben muss eigentlich passieren, dass zum Beispiel meine gute Freundin Christine
nicht
auf meine Beerdigung kommt?
Wir fuhren also die Kurven nach Jerusalem rauf, Lorenzo, ich, der Soldat neben uns und 40 andere Fahrgäste. Im Mittelstreifen erinnerten in Beton eingegossene Militärfahrzeuge aus dem Unabhängigkeitskrieg an die Staatsgründung 1948 , vor uns leuchteten schon die gelb-weißen Steine des Bergs der Ruhe, des Har HaMenuchot, des größten Friedhofs Jerusalems.
Auf einmal gluckste der Soldat neben mir. Ich schaute auf und sah Lorenzo auf dem Gewehrlauf des Soldaten herumkauen.
Ich sollte mir keine Sorgen machen, meinte der Soldat, die Waffe sei frisch gereinigt.
»Freitag ist mein Lieblingstag«, sagte Elena. »Da gibt es im Kindergarten immer Cola und Kekse und alle feiern Shabat. Nächstes Mal darf ich sogar die Ima Shabat spielen und die Kerzen anzünden.«
Nach zwei Wochen staatlichem Kindergarten in Tel Aviv radebrechten Elena und Gianna Hebräisch, malten überall israelische Flaggen hin, spielten Shabat. Eines Mittags kam Gianna nach Hause, lieferte die tägliche Bilderproduktion ab. Es waren F 16 -Kampfjets, auf dem Seitenruder: Davidsterne.
Die Welt ist immer stärker als die Eltern. Und Laufställe sind spätestens dann zu klein, wenn die Kinder laufen können. Zäune haben Lücken, Latten sind lose, das Ding ist zu niedrig oder untertunnelt.
Wir haben es ziemlich schnell aufgegeben, unsere Kinder zu Inselbürgern des Glücks zu machen. Wir lebten nun mal in Israel, und jeder konnte miterziehen. Das ist in Deutschland nicht anders. Für alles andere fehlen uns die Fußfesseln.
Rückhalt hilft. Der Rückhalt, den wir ihnen geben können. Und der, den sie in sich selbst haben. Hoffentlich. Und immer mal wieder ein Lachanfall, der die Rippenbögen tanzen lässt.
Ein paar Wochen später war ich zu Besuch bei einer Freundin im Gazastreifen. Kinder in Kleidersammlungswäsche ließen speichenlose Fahrradfelgen Sandberge hinabkullern, spielten barfuß in aufgerissenen Straßen. Wo immer wir waren, richteten sich die Augen auf uns: Ein Ausländer im abgeriegelten Gaza-Streifen ohne Kamera und ohne UN -Auftrag ist eine Attraktion.
Eine Traube Grundschüler drückte sich herum, folgte uns ein paar Meter. Sie winkten. Ich konnte kein Arabisch, sie kein Englisch. Sie kicherten, wollten irgendwas sagen, sich mitteilen. Sie wollten freundlich sein.
»Fuck you«, sagte einer und grinste.
Ich winkte zurück.
Viola kratzt am Bieretikett. Das macht sie sonst nie. Sie wirft Papierstreifen vom Dach, sieht ihnen nach. Viele sagen, ein eingerissenes Bieretikett sei praktisch, dann könne man im Zweifelsfall sein Getränk identifizieren. Das ist Blödsinn. Das Gegenteil ist richtig, wie ich in jahrelangen Festflaschenfeldstudien erproben konnte. Immer wenn ich in Getränkeunsicherheit geriet, war es mir ein Leichtes, aus der Vielzahl stehengelassener Flaschen zur einzig Etikettunverletzten zu greifen und den Abend herpesfrei zu überstehen, während Etikettpopler regelmäßig ins Schleudern kommen: Habe ich am Flaschenkopfetikett oder doch am Bauch gerissen? An der Ecke links unten oder doch einen kleinen zentralen Streifen?
Viola sagt, ich habe zu viel Zeit. Sie jedenfalls habe sich noch nie um eine Bieretikettentheorie gekümmert.
Jetzt knubbelt sie schon wieder.
»Wusstest du«, fragt Viola, »dass das berühmteste Kinderlied in Israel ausgerechnet ›Hänschen klein‹ ist?« Ich schaue auf, summe ein wenig an der Melodie herum. Erstens: Stimmt das? Marschiert Klein-Hans durch Negev und Galiläa, durch Tzfat und Beer Sheba? »Echt«, frage ich, »Hans?«
»Nee. Natürlich nicht der. Hier singen sie vom kleinen Yonatan. Yonatan HaKatan …«
Aber zweitens: Was soll der Singsang? Was will sie mir eigentlich sagen?
»Viola?«
Sie reckt das Kinn, schiebt die Unterlippe ein wenig vor, zieht die Augenbrauen nach oben – gerade so, als ob sie das Sätzchen »An mir ist nichts Komisches, absolut nichts, rein gar nichts, alles ganz normal, wirklich«, pantomimisch darstellen will. Und dabei übertreibt wie eine Stewardess bei der Sicherheitspräsentation.
Soso.
Für die ersten drei Wochen in Israel hatten wir eine Unterkunft gebucht. Das
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