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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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einzige, was wir aus Deutschland vorab organisiert hatten. Es war von Anfang an klar, dass wir innerhalb dieser drei Wochen eine Wohnung finden mussten, und das mit sehr limitiertem Budget, ohne Möbel und Hebräisch, dafür mit vier Kindern im Schlepptau. Und es war, wie es eben oft in solchen Situationen ist, wenn eine Aufgabe besonders beschwerlich und aussichtslos erscheint: Auf einmal hing für uns der Himmel voller Hängematten. Wir saßen fest in Trägheit und Urlaubsgefühl. Den Packstress im Rücken, das Meer um die Ecke und überall neues, tolles Essen. Dazu diese prächtige Drei-Wochen-Unterkunft. Die Eigentümerfamilie war irgendwo in Laos im Urlaub und hinterließ uns für 600  Dollar diesen Palast mit der gigantischen Dachterrasse. Draußen die ruhige Straße, der berühmte Eisladen direkt im Viertel: »Dr. Leck« mit dem sauguten Käsekucheneis, drinnen fünf Meter hohe Räume, im ottomanischen Baustil mit den typisch runden Lüftungsfenstern knapp unter der Decke. Die Hitze steigt nach oben und wird vom Meerwind rausgeblasen: eine natürliche Klimaanlage. Wir saßen da, ließen die Hitze aus den Räumen tragen. Kamen an. Als nur noch eine Palast-Woche übrig war, schlich sich Panik in unsere abendlichen Resümeegespräche. Klar, wir hatten Dinge gesammelt, die es uns in unserer neuen Wohnung irgendwie leichter machen sollten. Ein Klappbett etwa, das an einem Abend herrenlos herumgestanden war, nachdem die Flohmarkt-Verkäufer die Dinge, von denen sie sich in Zukunft noch Reibach erwarteten, eingesammelt und weggepackt hatten. Das Bett blieb liegen, wir retteten es. Oder die Granatapfelpresse, die wir sehr günstig erstanden hatten. Ich dachte: Super, eine richtige Granatapfelpresse und so günstig. Hier, wo es Granatäpfel gibt wie bei uns Kartoffeln. Nie wieder Saftdurst! Gesundheit, ich komme. Und dann entdeckte ich, dass ein kleines, aber entscheidendes Scharnier kaputt war und reparierte es kurzerhand mit der modellgleichen Presse unserer Palast-Familie.
    »Tut man nicht. Ist fies«, hörte ich in meiner Seele jemanden sagen.
    »Weiß ich, Moralist«, sagte ich. Mist auch. Wenn ich gesagt hätte: »Mache ich nie wieder«, müsste ich auch noch lügen. Also sagte ich lieber: »Mist, passiert.«
    Ich glaube, jeder hat so einen Moralisten, einen mahnenden Zeigefinger, der in der Seele rumbohrt. Für manche ist das die eigene Mutter, für andere Sahra Wagenknecht oder der liebe Gott. Bei mir ist es der Hoeneß-Bub, der Sohn von Uli Hoeneß, dem großen Bayernmanager, -präsidenten, -aufsichtsratsvorsitzenden. Der Hoeneß-Bub installierte sich in meiner Seele in der Paninisammelzeit der Weltmeisterschaft 1986 .
    Wir hatten mit unserem Taschengeld stets machen dürfen, was immer wir auch wollten, mit einer Ausnahme: Paninibilder. Das wäre eine ganz üble Abzocke, hieß es. Wer sie trotzdem kaufte, den traf tiefe elterliche Verachtung, und zwar mehrtägig und pro Packung. Die Paradeleistung meiner Eltern war es, ihre sechs Söhne tatsächlich paninifrei durch die Kindheit bekommen zu haben. Zumindest fast.
    Die WM ’ 86 war
meine
Panini-Weltmeisterschaft. Ich hatte ein fast volles Album, war der Held unter den Brüdern, die Fehlnummern kannte ich auswendig. Und das kam so.
    Ich ging in dieselbe Grundschule wie der Sohn von Uli Hoeneß. Er war, vor allem während der Paninizeit, sehr beliebt in der Schule. Wo immer der Hoeneß-Bub stand und ging, hing eine Traube Schüler um ihn und seine Abziehbildchen herum. Ich trug an jenem Sommertag – am D-Day der Moral – T-Shirt und kurze Hosen mit weiten Taschen. Wie immer war es die ganze Pause lang um nichts anderes gegangen als um Lücken, Doppelte, Wappen. Und ich? Hatte kein einziges Bildchen. Die Pause war rum, es war kurz vorm zweiten Gong. Wir drängten die Stufen zum Eingang hinauf, und da ging er direkt neben mir, der Hoeneß-Bub. Ich hatte den Blick geradeaus gerichtet, stur, spürte aber seinen Atem, seinen Blick. Aufgeregt war er: »Wer hat meine Doppelten gesehen? Meine Doppelten. Mein ganzer Stapel ist weg.« Und nur einer wusste, wo sich der Stapel jetzt befand. Die Hände tief in den weiten Hosentaschen, spürte ich ihn dort, verteilt auf beide Seiten, so dick war der Stapel gewesen.
    Sammelte der Hoeneß-Bub nicht bereits für das dritte Album? Eben. Hatte nicht Simon neulich gesagt, der Hoeneß hätte so viele Bilder, dass er es nicht mal mehr schaffte, alle Packungen überhaupt aufzureißen? Eben. War ich nicht eigentlich so was wie

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