Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
doch schien sich auf einmal ein Gedankensplitter nahtlos an den nächsten zu fügen. Wie bei einem Puzzle, bei dem man mit dem Rahmen beginnt und nun das vierte Eckstück einsetzt. Die Frage war nur: Welches Bild würde entstehen?
Ich schüttelte den Kopf. Zu wenig konnte ich das alles rational erklären, zu sehr ängstigte mich das bisherige Gedankenspiel. Andererseits … Wenn ich mich schon mal hier befand, warum nicht mal zu meinem Lieblingsbaum fahren und nachsehen, ob der Fremde nicht zufällig auch da war? Oder eine weitere Botschaft hinterlassen hatte? Oh, Mann, ja klar, Aline, warum nicht auch gleich in der Psychiatrie anrufen und fragen, ob sie heute noch ein Bettchen für dich beziehen würden? Ich schalt mich lautstark fluchend wegen dieser abwegigen Gedanken und war froh, weit und breit keinen einzigen Menschen zu sehen. Meine Fantasie ging gerade ordentlich mit mir durch, und ich stellte erleichtert fest, dass sich irgendwo in meinem Hirn doch noch eine kleine, leise Stimme der Vernunft meldete, die mir zuflüsterte: „Was, wenn das alles ein riesengroßer Streich ist? Wenn dich jemand so richtig reinlegen will?“ Ja, da kamen sie wieder hoch, die längst vergraben geglaubten Erinnerungen …
Damals in der achten Klasse erhielt ich einen vermeintlichen Liebesbrief meines heimlichen Klassenschwarms. Er wolle sich nach der Schule mit mir hinter der Turnhalle treffen. Ich sollte doch bitte den beigelegten knallroten Lippenstift tragen, er fände das an Frauen so sexy.
Na, Sie können sich denken, was dann kam. Eine Horde lachender Teenies, zwei Eimer Wasser und eine besonders großzügige Demütigung hatten mir damals einen der schlimmsten Tage meiner Jugend beschert.
Doch jetzt war ich erwachsen, schlank und selbstbewusst und sah für meine Begriffe wirklich richtig gut aus. Nicht übermäßig spitze, aber durchaus vorzeigbar. Und egal, welchen Scherz sich dieser Kerl mit mir erlaubte – er würde keinen Spaß daran finden, sich ausgerechnet ein ehemaliges Klassenopfer zur Zielscheibe erkoren zu haben. Das würde er noch früh genug merken.
Mit einer guten Portion Wut trat ich in die Pedale, fuhr geradeaus über die Straße, mitten hinein in das dunkle Loch der Ungewissheit.
5
Nur wenige Straßenlaternen leuchteten mir den Weg, als ich langsam über den Asphalt rollte. Der war eines der wenigen Dinge am Park, die mir normalerweise gar nicht gefielen. Teer in einer grünen Lunge – was für ein Witz. Jetzt gerade aber war ich froh darüber, ermöglichte mir die glatte Oberfläche doch ein relativ leises Vorankommen. Kies hätte zu sehr geknirscht und jedem sofort verraten, dass ich kam. Allmählich fragte ich mich, wie ich jemals mit dieser Paranoia aus dem Haus hatte gehen können, aber ich möchte Sie mal sehen, wenn Ihnen nachts jemand heimlich auf den Balkon steigt.
Besser vor- als nachsichtig.
Behutsam trat ich ein ums andere Mal in die Pedale. Auch wenn ich auf der einen Seite richtig dick Angst hatte, so allein als Frau in der kalten Nacht in einem riesigen Park, mein kleines Herz wie ein gefangener Vogel gegen den Brustkorb flatternd, so verdammt neugierig war ich doch auf meine Pappel angesichts dessen, was sich vor Kurzem dort ereignet hatte. Es war so irrational, nennen wir es ruhig grenzdebil, zu glauben, ich würde dort so etwas wie einen Hinweis, ein weiteres Zeichen finden. Ich wusste ja nicht mal, wonach ich überhaupt hätte Ausschau halten sollen.
Verdammte Neugier! Manchmal war sie wirklich hilfreich.
Und, wie schon erwähnt, ziemlich oft der Katze Tod.
Miau.
So fuhr ich nun im fahlgelben Licht der Laternen an Büschen und Grünflächen vorbei, die mir zu dieser Zeit alles andere als beruhigend erschienen. Wie konnte etwas, das am Tag so schön war, nachts nur so bedrohlich wirken? Nach einer langen, geraden Strecke machte der Weg eine Rechtskurve, und da sah ich sie: meine Pappel. Groß und mächtig reckte sie sich in den Himmel und schien trotz ihrer nicht mehr ganz voluminösen Blätterkrone gleichzeitig Mann und Frau zu symbolisieren. Für meine Mutter war eine Pappel stets irgendwie männlich, imposant und drohend. Für mich hingegen bedeutete die Baumkrone Schutz, ein Heim für meine kleine Seele. Wann immer ich an dem knorrigen Stamm lehnte, war es mir, als würde alle Last meines Lebens von mir abfallen und eine Woge von Frieden meinen Kummer hinwegwehen. So komisch das klang, irgendwie gab dieser Baum mir Halt, Wärme und Geborgenheit. Müsste er jemals gefällt
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