Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
Winterschuhe, die inzwischen gut getrocknet waren. Meinen rosa Kuschelpulli ließ ich an; wozu schick machen, wenn man mitten in der Nacht nur eine Runde mit dem Fahrrad drehen wollte? Lediglich ein wenig Concealer tupfte ich, doch nicht so ganz uneitel, auf meine Augenringe, aber das ganz große Make-up, ohne das ich in der Regel nie das Haus verließ – und war es auch nur, um den Müll wegzubringen –, blieb unbeachtet in der Schminktasche verstaut. Eine schwarze Mütze passend zu meinem schwarzen Mantel aufgesetzt, meinen pinkfarbenen Lieblingsschal umgeschlungen, et voilà! – schon konnte es losgehen.
Keine zehn Minuten später holte ich meinen kleinen Drahtesel aus dem Keller. Er war schon sehr alt und ziemlich klapprig, doch erfüllte er immer noch brav seinen Zweck. Ich hatte mir das Geld dafür einst als Teenager durch das Austragen von Zeitungen mühsam zusammengespart; meine Eltern hatten sich leider ein solches Geschenk nicht leisten können. Als Busfahrer verdiente man einfach nicht die Welt, und als Kassiererin im Supermarkt erst recht nicht. Aber ich wollte nicht undankbar sein: Ich hatte eine schöne Kindheit gehabt, und echten Mangel gab es nie. Nur Extras, die musste ich mir eben selbst erarbeiten. Als Papa starb, erhielt meine Mama eine nicht gerade unerhebliche Summe von seiner Lebensversicherung ausgezahlt, sodass sie ab sofort nicht mehr derart knapsen musste. Dieses alte, silbergraue Fahrrad war meine erste eigene, hart erarbeitete Investition gewesen, und mir bedeutete das immer noch eine Menge. Für kein Geld der Welt hätte ich es hergegeben, ich würde es fahren, bis es mir unter dem Hintern auseinanderfiel – stand es doch dafür, dass Träume wahr werden konnten, wenn man nur fest daran glaubte und arbeitete.
Die kalte Novemberluft knallte mir ins Gesicht, als ich in die Pedale trat, und für einen Moment fand ich meine Idee gar nicht mehr so gut wie noch vor zwei Minuten. Aber jetzt saß ich schon einmal auf dem Sattel und würde mich mindestens eine halbe Stunde lang auspowern. An Schlaf war sowieso grad nicht zu denken. Und, ehrlich gesagt, machte es auch irgendwie Spaß, zu solch nachtschlafender Zeit durch menschenleere Gassen und Straßen zu fahren, die blinkenden Neonreklamen der Schnellimbisse zu begutachten, hier und da einen neugierigen Blick in ein beleuchtetes Fenster zu werfen und dabei nicht wirklich auf vorbeirasende Autos achten zu müssen. Ich radelte durch meine Nachbarschaft, nahm die erste Querstraße rechts und fuhr einfach drauflos, ohne ein wirklich konkretes Ziel. Die Pfützen spiegelten die Leuchtreklamen der Geschäfte wider und schienen deren Glanz zu verdoppeln, als ich hindurch fuhr. Hier und da stieg mir neben dem kalt-nassen Novemberhauch eine Brise verschiedenster Gerüche und Gewürze in die Nase. Man glaubt ja gar nicht, wie viele Leute sich um drei Uhr nachts noch etwas kochen. An der einen Ecke duftete es nach leckerem Fladenbrot, das die Leute in der türkischen Bäckerei gerade frisch aus dem Ofen geholt hatten, an der nächsten nach einem saftigen Hackbraten wie dem von meiner Mutter. Da ich seit fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte, reagierte mein Magen auf die diversen Gerüche äußerst sensibel. In Kombination mit der ungewohnten Stille der Stadt fühlte ich mich dabei fast wie Indiana Jones auf der Suche nach dem verlorenen Eintopf. Immer weiter trieb mich meine Fahrt und die Neugier, welches Großstadtkleinod sich wohl hinter dem nächsten Häuserblock verbergen mochte.
So bemerkte ich den Stadtpark erst, als ich um die letzte Ecke bog und die Straße nur nach rechts oder links führte. Geradeaus offenbarte sich lediglich der Fahrradweg des großen Grüns, das zu dieser nächtlichen Zeit vielmehr wie ein rabenschwarzes Loch inmitten all der Hochhäuser klaffte. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich hierher gelangt war, geschweige denn, wie lange ich geradelt war; so sehr hatte ich mich von all den vielen neuen Eindrücken ablenken lassen. Ich blieb stehen und stieg zögerlich vom Fahrrad. Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf, der die Haare auf meinen Armen Tango tanzen ließ.
Der Fremde unter der Pappel.
Der Ast auf meinem Balkon.
Die plötzliche Lust, nach draußen zu gehen.
Und nun stand ich hier an der Kreuzung. Irritiert, verwirrt und irgendwie auch ein klein wenig ängstlich. Na gut, nicht nur ein klein wenig: Ich hatte die Hosen in Lichtgeschwindigkeit gestrichen voll. Es war alles so seltsam surreal, und
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