Ausgeblüht: Kriminalroman (Psycho-Krimi) (German Edition)
Kalorie und untersagte sich, was sie am meisten liebte, Süßigkeiten. Die Methode funktionierte, zehn Kilo waren abgespeckt und die restlichen zehn würde sie auch noch schaffen, um endlich wieder in die alten Hosen zu passen. Aber jetzt keimte sie zu stark auf, diese Sucht, diese Geisel ihres Geistes, unabdingbar war der Drang, und genüsslich kaute sie den ersten Bissen. Verbotenes schmeckte doch immer wieder doppelt so gut, und für einen kurzen Moment besiegte der zuckrige Geschmack ihr schlechtes Gewissen. 75 Kilo waren definitiv immer noch zu viel bei einer Größe von einem Meter sechzig, aber in den letzten Tagen wurde es unmöglich, die kulinarischen Gelüste zu ignorieren, seitdem sie erfolglos versuchte, mit Saskia telefonisch Kontakt aufzunehmen.
Die ungewohnte Funkstille hatte Olivia ins Grübeln gebracht nach den Ereignissen am Wochenanfang. Spät abends hatte Saskia bei ihr zu Hause angerufen und bat um ein Alibi. Sie müsse losziehen, um Frank zu suchen, er sei verschwunden, und sie befürchtete, dass er sich etwas Schreckliches antun könnte. Was, war Olivia zu diesem Zeitpunkt unklar, ein Alibi als Freundschaftsdienst selbstverständlich, und so hatte sie am Telefon Saskias Mann gegenüber die plötzlich Erkrankte gespielt, die dringend Medikamente benötigte. Albert hatte ihr geglaubt und Saskia sofort losgeschickt.
Damit war der Fall für Olivia erledigt gewesen, und sie beschloss, ihrem Lieblingsritual nachzugehen. Zielstrebig hatte sie im CD-Ständer nach dem markanten weißen Cover gegriffen und das Köln Concert von Keith Jarrett aufgelegt, ein paar Kerzen angezündet, war in die Badewanne gestiegen, um in die Vergangenheit abzutauchen. Eingelullt in den Duft von Eukalyptus und Rosmarin, die Wassertemperatur am oberen Limit, hatte sie die Klänge des Amerikaners empfangen, der für Olivia zu den genialsten zeitgenössischen Pianisten zählte, die Augen geschlossen und war dem Prinzip des freien Flusses gefolgt, den motivisch geprägten Improvisationen seines Spiels, den inneren Frieden genießend, der plötzlich von einem schrillen Klingelton unterbrochen wurde. Lahm und träge im Schaumbad liegend, hatte Olivia beschlossen, liegen zu bleiben, frei nach dem Motto: „Wenn es wichtig ist, wird sich der Anrufer wieder melden“. Als sie zum Shampoo griff, begann das Telefon von Neuem zu klingeln, während Keith Jarrett sich gerade in Ekstase gespielt hatte. Diesmal siegte ihre Neugierde, und sie mühte sich über den Wannenrand. Es war Saskia gewesen, panisch, vollkommen in Tränen aufgelöst. Sie könne Frank nicht finden, „meinst Du, er tut sich was an?“, hatte Olivia gefragt. „Nein, denn wir haben ausgemacht, wenn wir es machen, dann zusammen.“
„Was machen?“
„Selbstmord.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der diese schreckliche Nachricht überbracht wurde, überrumpelte Olivia, so dass ihr dazu nur die banale Frage eingefallen war, für was das denn gut sein solle. So hatte sie von der Idee des gemeinsamen Freitods erfahren, falls ihr Bestreben, hier auf Erden vereint glücklich und zufrieden leben zu können, nicht realisierbar sei. Gänsehaut war über Olivias Körper gekrochen, nackt und nass hatte sie dagestanden, völlig perplex. Das waren Ideen gewesen, die so gar nicht in das komfortable Leben ihrer Freundin gehörten. Saskia hatte zwar heftige Probleme mit ihrer pubertierenden Tochter, aber ansonsten besaß sie alles, was ihr vergönnt war. Ein Kind, einen Ehemann, und gesellschaftliche Anerkennung durch ihre Hochzeit im elitären Kreis einer angesehenen Akademikerfamilie. Saskia verfügte über unschlagbare Privilegien, von denen sie selbst als winzige, pummelige, von Sommersprossen übersäte, weißhäutige schüchterne Person nur träumen konnte. Saskia war amüsant, gesellig und wunderschön. Ihr hoch gewachsener, schlanker Körper entbehrte nichts ließ keine Wünsche offen. Sie hatte eine glatte, bronzene, geschmeidige Haut, lange Beine, schmale Hüften, eine Wespentaille. Ihr zartes Gesicht wurde von dunkelbraunen Rehaugen und purpurroten, vollen Lippen dominiert. Über ihren weichen Schultern lag eine pechschwarze Haarpracht, die bis zum Hintern herab fiel. Für Olivia war sie die Schönste im ganzen Land, eine strahlende Persönlichkeit mit einer gehörigen Portion Esprit. Von den Männern begehrt, von den Frauen beneidet.
Rein optisch betrachtet war sie standesgemäß, was die elementaren Ansprüche der erlesenen Kreise betraf, in denen sie sich bewegte.
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