Ausgefressen
forttragen.
»Ich habe also heute den halben Tag damit verbracht«, fasst er endlich zusammen, »Lebendessen für einen Erdmännchenclan aufzutreiben, um zu erfahren, dass vorgestern möglicherweise« – er zählt seine Finger – »Schüsse gehört worden sind. Wahrscheinlich nicht weniger als einer und nicht mehr als sieben. Vermutlich im Zoo, eventuell im südwestlichen Teil. Vor oder nach der letzten Fütterung. Ist das so richtig?«
»In etwa«, antworte ich.
Rufus nickt bestätigend.
Phil setzt seine Brille wieder auf und richtet sie in die letzten Sonnenstrahlen des Tages. »Ich wusste es.«
»Was?«, will Rufus wissen.
»Nicht wichtig …« Er wendet sich ab und steckt die Hände in die Taschen.
Jetzt, da ich seine Augen gesehen habe, weiß ich, dass auch in ihm eine Sehnsucht schwelt. Vielleicht nicht die nach der Savanne. Sondern nach … Ach, wer weiß das schon? Am Ende trägt jeder seine eigene Savanne mit sich herum, schätze ich.
»Macht’s gut, Jungs«, sagt Phil im Gehen. »Die Dosen könnt ihr behalten …«
Er hat bereits den Kiesweg erreicht, und Rufus lässt selbstmitleidig den Kopf hängen, als ich ihm nachrufe: »Hey, Schnüffler!«
Er dreht mir noch einmal seine Brillengläser zu, in denen sich der Sonnenuntergang spiegelt.
»Wir glauben ja, dass es beim Eiswagen war«, rufe ich, »und dass es zwei Schüsse waren.«
Phil legt den Kopf schief, zögert einen Moment und tritt noch einmal an das Gehege heran. »Und wie kommen die Herren Erdmännchen zu diesem Schluss?«
»Rufus?«, sage ich.
Mein Bruder zuckt zusammen. Wenn er damit beschäftigt ist, sich selbst leidzutun, ist er wie in Trance. »Ja?«
»Wie kommen wir darauf, dass es zwei Schüsse waren und dass sie in der Nähe des Eiswagens gefallen sind?«, frage ich ihn.
Noch einmal zieht er seinen gelben Papierklumpen hervor und pfriemelt die Zettel auseinander. Appetitlich geht anders. Endlich findet er, was er sucht: »Statistischer Mittelwert.«
»Statistischer Mittelwert?«, wiederholt Phil.
Rufus zieht entschuldigend die Schultern hoch.
»Außerdem haben wir zwei Schüsse gehört und zwei Blitze gesehen«, ergänze ich.
»Ihr habt zwei Schüsse gehört und zwei Blitze gesehen?
»Korrekt«, antwortet Rufus.
Phil deutet zum Eiswagen hinüber. »Bei dem Eiswagen da hinten?«
Rufus nickt eifrig. Ich erspare mir eine Antwort. Langsam wird es mir zu blöd.
»Und warum sagt ihr mir das nicht gleich?«
»Rufus?«, frage ich.
Rufus haut sich mal wieder seine eigenen Pfoten um die Ohren. Ich wünschte wirklich, er könnte eine weniger bescheuerte Übersprungshandlung finden.
»Weiß nicht«, zischt er.
Ich schlenkere lässig mit den Armen und versuche, eine Augenbraue hochzuziehen. Das ist was, das die Menschen uns echt voraushaben:
eine
Augenbraue hochziehen. Und mit den Fingern schnippen. »Tja …«, erkläre ich.
Phil sieht sich um. Inzwischen ist der Zoo praktisch menschenleer. »Wie viel Zeit hab ich noch, bevor die mich rausschmeißen?«
»Bis Opa Reinhard kommt und seinen Rundgang macht«, antworte ich.
»In Minuten?«
»Sehe ich aus, als könnte ich die Uhr lesen?«
Rufus und ich verfolgen, wie Phil zum Eiswagen hinübergeht und anfängt, erst im Mülleimer zu stöbern und anschließend Beas Wagen zu untersuchen. Mein Bruder bekommt Glupschaugen, als er sieht, wie Phil etwas aus seiner Tasche zieht, sich am Schloss des Eiswagens zu schaffen macht und einen Moment später darin verschwunden ist.
»Ich könnte mir vorstellen, dass das nicht zu hundert Prozent mit den hiesigen Gesetzen in Übereinstimmung zu bringen ist«, bemerkt Rufus.
Ich antworte nicht. Stattdessen blicke ich möglichst unauffällig zu Elsas Käfig hinüber. Erst ist Phil im Eiswagen verschwunden, jetzt verschwindet die Sonne hinter der S-Bahntrasse. Der Schatten legt sich über den Zoo wie ein großes Schweigen. Ein Tag wie unzählige vor und nach ihm. Aber nicht für mich. Im Zwielicht erkenne ich, wie Elsa sich auf dem Boden räkelt und ihr paradiesisch weiches Bauchfell leckt. Das Wort »lasziv« liegt mir auf der Zunge, ohne dass ich genau wüsste, was es bedeutet. Ich könnte Rufus fragen. Mach ich aber nicht. Elsa weiß, dass ich sie heimlich beobachte, jede Wette. Und sie weiß, dass ich an was dran bin. Womöglich an etwas Großem. Es stimmt schon: Ich wühle in der Erde herum, habe ständig Sand zwischen den Krallen, mein Fell ist fleckig und nicht halb so weich wie ihres … Aber ich hab’s drauf. Und früher oder
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