Ausgefressen
den Löchern sind Mäuse.«
»Mäuse!« Unwillkürlich pfeift Rufus durch die Zähne. »Geilomat.«
Wie mich das nervt. Am Ende hat sich keiner in unserer Familie richtig unter Kontrolle. Den ganzen Tag doziert mein Bruder mit gestelzten Worten über griechische Philosophie, Prozessorgeschwindigkeiten oder die neuesten Trends in der Medizin, und kaum kommt jemand mit Lebendessen, gehen die Instinkte mit ihm durch, er stürzt sich auf eine Tupperdose und ruft »Geilomat!«. In null Komma nichts ist Rufus im Bau verschwunden, keine zwei Minuten später haben die Männchen aus dem zweiten und dritten Wurf sämtliche Tupperdosen in Sicherheit gebracht. Im Bau bricht ein Jubel los, als würde Justin Bieber ein Erdmännchen-Exklusivkonzert geben. Ohs und Ahs dringen nach draußen.
Rufus findet sich wieder bei mir ein, nervöser denn je. In seinem Mundwinkel hängen Reste eines Tausendfüßlers. »Rocky ist in einem Zustand«, flüstert er mir zu, »den ich euphemistisch als ›verärgert‹ umschreiben würde.«
Rufus weiß, dass ich nicht weiß, was »euphemistisch« bedeutet. Aber wenn er glaubt, dass ich ihn danach frage, ist er schief gewickelt. Ich warte einfach.
»Also?«, fragt Phil schließlich.
Mein Einsatz: »Wir haben letzte Nacht eine großangelegte Befragung unter den Tieren durchgeführt«, erkläre ich.
Phil sieht sich das Gehege an und rüttelt am Zaun. »Heißt das, ihr könnt den Käfig verlassen?«
Ich tue so, als würde ich meine Krallen checken. »Bin ich ein Erdmännchen?«, frage ich zurück.
»Wenn du es nicht weißt …«
»Ihr Menschen seid komische Vögel«, führe ich aus. »Meint, ihr könntet ein Erdmännchen einsperren, indem ihr einen Zaun aufstellt? Dabei habt ihr selbst uns unseren Namen gegeben:
Erd
männchen …« Ich warte, bis bei Phil der Groschen fällt. Vielleicht tut er es, vielleicht auch nicht. Ist nicht zu erkennen. Echt cool, die Brille. »Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich kann jederzeit dieses lächerliche Gehege verlassen.«
Roxanes schrille Stimme dringt aus dem Bau: »Iiihh! Die bewegt sich ja!«
Offenbar hat Rocky gedacht, er könne bei ihr punkten, indem er ihr eine Maus zum Geschenk macht.
»Hab dich nicht so!«, mault er. »Die anderen würden … Die sind alle krass geil auf ’ne Maus.«
»Also
ich
rühr das nicht an!«, quietscht unsere Schwester.
Meine ganze Familie ist so was von scheißpeinlich. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, und kratze mir locker die Kniekehlen. »Was unsere Befragung angeht …« Ich werfe Rufus einen vielsagenden Blick zu: Sein Auftritt.
»Oh, ja.« Er versucht, Ordnung in sein Zettelchaos zu bringen. »Hab’s gleich …«
Phil sieht meinen Bruder an, als erkenne er in ihm die Inkarnation Jesu. »Du kannst schreiben?«
»Ist doch nichts dabei«, antwortet Rufus, während er seine Notizen sortiert. »Bereits die alten Ägypter …«
»Rufus«, ermahne ich ihn. »Schlechter Zeitpunkt für wissenschaftliche Vorträge.«
»… ’tschuldigung.«
»Also«, nehme ich einen zweiten Anlauf, »unsere Befragung hat Folgendes ergeben …«
Hektisch löst mein Bruder die letzten schweißverklebten Zettel voneinander. Dann ist er so weit: »Wenn man die Aussagen der Flamingos und der Pinguine herausrechnet und berücksichtigt, dass die Nashörner« – er wirft mir einen vorwurfsvollen Seitenblick zu – »nicht bereit waren, eine Aussage zu machen, ergibt sich folgendes Bild: Übereinstimmend sind Geräusche bemerkt worden, die darauf schließen lassen, dass innerhalb des Zoos Schüsse gefallen sind, und zwar mindestens einer und höchstwahrscheinlich nicht mehr als sieben, auch wenn eines der Gnus standhaft behauptet, dreiundzwanzig Schüsse gehört zu haben – was ich persönlich stark in Zweifel ziehe, da Gnus von Natur aus maximal bis drei, in seltenen Fällen bis vier zählen können. Wahrscheinlich ist, dass diese Schüsse im südwestlichen Teil des Zoos gefallen sind und entweder vor oder nach der letzten Fütterungszeit.« Rufus ist zu nervös, um die Zettel wieder zusammenzurollen, klatscht sich den Papierklumpen so unter die Achsel und macht Männchen, als erwarte er, einen Orden angesteckt zu bekommen.
Phil nimmt die Brille ab und reibt sich die Schläfen. Er hat blaue Augen, wie ich feststelle. Ist im Tierreich sehr selten. Blau und irgendwie … traurig. Ziemlich lange blicken diese traurigen Augen zur Bahntrasse hinüber, bleiben schließlich an einem ICE hängen und lassen sich
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