Ausgefressen
Anita ihren Gedanken weiter. »Sich einen halben Handschuh nähen? Oder einen Pulswärmer?«
»Hör auf, so zu reden!«
Hätte ich bereits gefrühstückt, würde ich mich auf der Stelle übergeben. So aber kommt nur bitterer Magensaft. Ich will Anita anschreien, dass sie sich ihr Ohrschmalz sonstwohin schmieren kann und wir auf der Stelle etwas unternehmen müssen, weiß aber, dass es sinnlos wäre.
»Dämlicher Primat!«, fauche ich, nehme all meinen Mut zusammen und schiebe mich an der gläsernen Absperrung entlang Richtung Elsa.
Wenn mich jetzt der Direktor bemerkt, ist es aus. Dann weiß er, dass wir einen Weg gefunden haben, unser Gehege zu verlassen. Er wird unseren Bau ausheben und mit Beton ausgießen lassen – sofern er den Clan nicht gleich gesammelt an einen Wanderzirkus verscherbelt. Aber ich
muss
Elsa beistehen, muss ihr sagen, dass ich sie finden und befreien werde, egal, wo sie sie hinbringen, dass ich Kontakte nach draußen habe, dass Phil mir noch etwas schuldet, dass
nichts
auf der Welt mich davon abhalten wird, sie aufzuspüren und mich an ihren Entführern zu rächen.
Die beiden Männer haben inzwischen den mitgebrachten Käfig auf den Boden gestellt und sind im Begriff, die Hülle abzuziehen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass der Direktor, den mein gerechter Zorn noch treffen wird, ein zufriedenes Grinsen aufgesetzt hat. Mit zwei kühn zu nennenden Sprüngen setze ich über den Graben, der die Paviane von den Gorillas trennt, kämpfe mich durch den Schilfgürtel und schleiche mich von hinten an Elsas Gehege heran. Keine Angst, Elsa, ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt, ich schwöre es. Das sind die Gedanken, die sich formen, während ich die letzten Meter des Abhangs überwinde, die mich noch von ihrem Käfig trennen. Mit Schläfen, die vor ohnmächtiger Wut zu explodieren drohen, drücke ich mich gegen eine Strebe, schiebe vorsichtig meine Nase um die Ecke und beobachte, wie sich einer der Männer neben den Käfig kniet. Ich bemerke noch, dass seine Latzhose über der Hüfte spannt und es nach Zigarette riecht, dann zieht er die Hülle ab.
Ich traue meinen Augen nicht. Ist wörtlich gemeint. Ich sehe, dass da ein Chinchilla im Käfig hockt. Ein Männchen. Doppelt so groß wie die zarte Elsa. Aber ich glaube es nicht. Als säße ich einem Zaubertrick auf. Gleich wird die rauchende Latzhosenwurst die Hülle über den Käfig stülpen, noch einmal abziehen, und der Käfig wird leer sein. Doch den Gefallen tut er mir nicht. Stattdessen krabbelt das Chinchillamännchen zum Gitter, richtet sich auf und legt die Vorderfüße um die Stangen.
Lange blicken Elsa und er einander nur an, dann sagt er irgendwann: »Hallöchen.«
Und Elsa antwortet: »Hi.«
»Isch bin …« Mit seiner Stimme könnte er mühelos Holz in Knete verwandeln. »Nun: Isch denke, du weißt, werr isch bin.« Zu allem Überfluss ist seine Knetstimme auch noch mit einem südländischen Akzent garniert.
Elsa geht zögerlich zwei Schritte auf ihn zu, richtet sich ebenfalls auf und biegt auf obszöne Weise den Rücken durch: »Giacomo.«
»Giacomo«, wiederholt er, als könne er selbst kaum glauben, dass er es ist.
»Was meinen Sie?«, ruft der neben dem Käfig kniende Mann dem Zoodirektor zu.
»Versuchen wir’s!«, ruft der zurück.
»Also dann, Großer.« Offenbar ist Giacomo gemeint. Der Mann öffnet die Käfigtür. »Viel Spaß in deinem neuen Zuhause!«
»Zuhause …«, stoße ich atemlos hervor, dann sehe ich nur noch den Himmel an mir vorbeifliegen, spüre kalten Stein an meiner Wange, und plötzlich ist alles grün. Schilf, denke ich noch, dann wird das Grün zu Schwarz.
Noch bevor ich wieder bei Bewusstsein bin, schmecke ich die lehmige Erde zwischen meinen Zähnen. Vom Zooeingang sind erste Kinderstimmen zu vernehmen. Ich bin den Hang hinabgestürzt, kombiniere ich. Und zwar, weil ich ohnmächtig geworden bin. Und ohnmächtig geworden bin ich, weil … Giacomo. Fuck! Die Kinderstimmen nähern sich. In Sprintermanier rase ich am Gehege vorbei, tauche unter der Hecke durch, spurte über den Weg, so dass tatsächlich eine Staubwolke hinter mir aufsteigt, hechte durch die Absperrung hinter dem Flamingohaus und verschwinde in der Erde.
In meiner Kammer angekommen, breche ich praktisch zusammen. Die Morgengymnastik, ich bekomme das Bild einfach nicht aus dem Kopf: Elsa, wie sie sich an der Stange räkelt. Und ich Idiot habe mir allen Ernstes eingebildet, sie hätte es für
mich
getan! Dabei
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