Ausgefressen
Nashornkuh demonstrativ ab und ignoriert mich. Oder versucht es zumindest. Und wie immer lasse ich mich davon natürlich nicht abhalten.
»Ich kann mich ja täuschen, Ursula«, sage ich, »aber ich habe ganz stark den Eindruck, dass dein Hintern seit gestern irgendwie … schlanker geworden ist. Machst du neuerdings Diät?«
»Justus«, fleht Ursula ihren Mann an. »Sag ihm, er darf das nicht.«
Justus, der ganz offensichtlich noch an den Folgen seines nächtlichen Frontalaufpralls herumlaboriert, stellt sich schützend vor seine Braut und senkt den Kopf. »Hau ab«, dröhnt er.
»Ich mein’ es ernst!«, beharre ich. »Der Arsch von deiner Frau sieht heute wirklich viel schlanker aus. Findest du nicht, Justus?«
»Hau ab, sag ich!«, blökt er mühsam. Man kann ihm seine Kopfschmerzen förmlich ansehen.
»Überzeug dich selbst!« Ich knete mit meinen Klauen einen imaginären Hintern. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber
ich
werd bei dem Anblick total scharf …«
Ursula lässt resigniert den Kopf hängen. Wenn sie könnte, würde sie sich die Hufe auf die Ohren halten. Justus’ tonnenschwerer Körper schaukelt unwillkürlich hin und her – ein Tanker in Seenot.
Ich setze noch einen drauf: »Habt ihr beiden … länger keinen Sex mehr gehabt, oder so?«
Jetzt fängt auch noch Justus’ linker Vorderfuß an zu stampfen. Ich hab ihn also so weit: Mit einer einzigen, wohlgesetzten Spitze könnte ich ihn in vollem Lauf gegen die Absperrung rennen und sich sein breites Maul plattdrücken lassen. Zu meiner eigenen Überraschung stelle ich jedoch fest, dass ich heute irgendwie … versöhnlich gestimmt bin. Liegt wahrscheinlich an der Leiche unter dem Blumenbeet. Das Leben ist so schamlos kurz und kostbar und … langweilig. Jeden Tag dieselben blöden Sprüche. Ich wende mich ab, murmele noch »sooo ein hübscher, kleiner Hintern« und kehre auf den Weg zurück.
Ich merke es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber ungefähr in diesem Moment schlägt mein Leben einen Haken wie ein Präriehase. Die Zeit drängt, und ich will noch bei Elsa vorbei, also kürze ich ab, umrunde die Insel mit dem Hirschblockhaus, gehe am unteren Waldschänkenteich vorbei, biege in den kleinen Weg ein, der mich unweigerlich am Pavianfelsen vorbei zu Elsa führt – und kann mich im letzten Moment mit einem quiekenden Aufschrei in der Antilopenhecke in Sicherheit bringen.
Zwei Männer. In blauen Latzhosen. Durch die Zweige beobachte ich, wie sie sich an Elsas Gehege zu schaffen machen. Bevor der Zoo seine Pforten geöffnet hat! Und was noch schlimmer ist: Sie haben einen Käfig dabei. Jedenfalls nehme ich an, dass es ein Käfig ist. Ein Kasten, so groß wie ein Schulranzen, mit einer schwarzen Hülle drum herum, aus der oben ein Griff herausragt. Und sie verschaffen sich tatsächlich Zugang zu Elsas Gehege, gehen einfach so hinein! Die einzige Erklärung, die mir einfällt, ist, dass Elsa gerade entführt wird. Meine Elsa – entführt! Ich sprinte die Hecke entlang und nehme die Gefahr in Kauf, bemerkt zu werden, als ich die Wegseite wechsle und hinter einen Betonkübel hechte. Die Männer sind nicht allein. Auf dem Weg steht … der Zoodirektor! Ungeniert beobachtet er die beiden bei ihrem Treiben. Das kann nur eins bedeuten: Die Entführer machen gemeinsame Sache mit dem Direktor. Elsas Entführung ist eine abgekartete Sache!
»Ist das ein Übungsmanöver oder so was?«, kommt eine Stimme aus dem Gehege in meinem Rücken. Anita, das Pavianweibchen, sitzt auf ihrem Lieblingsfelsen und legt mäßig interessiert ihren Kopf auf die Seite.
»Elsa wird entführt!«, zische ich. »Wir müssen sofort etwas unternehmen!«
Anita steckt sich einen Finger ins Ohr, wo sie ihn offenbar vergisst. »Das Chinchillaweibchen?«, fragt sie gelangweilt.
»Schau doch – da sind zwei Männer in ihrem Käfig!«
Anita blickt träge zu Elsas Gehege hinüber. »Sehe ich.«
»Da hast du es: Wir müssen was unternehmen!«
Endlich nimmt Anita wieder ihren Finger aus dem Ohr. »Weshalb sollte die jemand entführen?«
»Was weiß ich – ihr Fell wahrscheinlich. Das ist Millionen wert!«
»Mach keine Witze, Ray. Das Fell von Elsa würde mir nicht mal für eine Mütze reichen.« Sie puhlt mit einem Zahnstocher das Ohrschmalz unter ihren Fingernägeln heraus, während vor meinem geistigen Auge eine Chinchillamütze Gestalt annimmt, die mich aus zwei unsagbar traurigen Augen ansieht. »Was sollte da ein Mensch mit ihr anfangen?«, spinnt
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