Ausgefressen
Wunderkasten so drauf hat!«
Ich habe Rockys Rede vom Rand der Pizzaschachtel aus verfolgt, auf der ich sitze und in der ich gerade einzusinken drohe, weil mein großer Bruder an mir vorbei von der Bühne stapft, jeder Schritt ein kleines Erdbeben. »Gute Rede, Rocky«, rufe ich ihm hinterher.
Er dreht sich zu mir um, ein breites Siegerlächeln im Gesicht. Ich korrigiere mich: ein breites Siegerlächeln
statt
eines Gesichts. »Und du hast gedacht, ich hab’s nicht drauf, stimmt’s?« Eigentlich ist es unmöglich, aber das Grinsen zieht sein Gesicht tatsächlich noch etwas mehr in die Breite.
Aus der Menge taucht Roxane auf und schlingt ihre Vorderbeine so weit um seine breite Brust, wie sie kann. »Wie cooool war das denn?!«, quietscht sie glücklich.
»Ich weiß.« Rocky legt ihr ein Vorderbein um die Schulter, unter dem sie praktisch begraben wird. »Ich weiß, Baby.«
Der Rest ihrer fraglos höchst angeregten Unterhaltung geht dankenswerterweise in den Bässen der Black Eyed Peas unter. Die Leuchte fängt an zu blinken. Das muss die vielbeschworene Strobo-Funktion sein. Die Menge fängt an zu wippen, und der vierte Wurf entert geschlossen die Bühne. Im abgehackten Licht wirken die ungelenken Tanzbewegungen von Nino und Nick noch ungelenker. Traubenzucker, jede Wette. Ich ziehe mich in eine Ecke zurück, denke an Phil, an seine traurigen Augen, an Elsa, an morgen und das, was danach kommt. Sie werden den alten von Sieversdorf ausgraben, Phil wird sich verabschieden. Und dann? Dann wird alles wieder so, wie es vorher war.
Der vierte und fünfte Wurf singt inzwischen geschlossen den Refrain mit.
I gotta feeling
That tonight’s gonna be a good night …
Bevor das Lied zu Ende ist, ziehe ich mich unbemerkt in meine Schlafkammer zurück.
Kapitel 5
So, wie der gestrige Tag gute Chancen hatte, zum ruhmreichsten Tag meines Lebens zu werden, so hat der heutige gute Aussichten, zur größten Schlappe zu werden. Dabei verläuft zunächst alles nach Plan: Meine Geschwister dösen noch, verkatert von der Party, in ihren Kammern, als ich bereits auf den Beinen bin, durch unser Tunnelsystem zum Flamingogehege hinüberkrieche und von dort weiter bis zur Kammer mit der Leiche. Eigentlich mag ich das – wenn alles noch schläft, der Zoo noch geschlossen ist und der Tag eben erst anbricht. Heute allerdings … Ist ein komisches Gefühl, so alleine mit dem Tod in einem Raum zu sein. Kommt einem vor, als würde man stören. Insbesondere, wenn man noch nichts gefrühstückt hat.
Ich vermeide es, den alten von Sieversdorf anzusehen, und mache mich an die Arbeit. Erst grabe ich einen Gang bis ans Licht, dann stecke ich seinen Arm hindurch, bis oben, zwischen den fröhlich gelben Blüten der Sonnenhüte, seine Finger herausschauen. Irgendwie verfestigt sich dabei der Eindruck, als stimme etwas nicht – abgesehen von dem Umstand, dass ich gerade an einer menschlichen Leiche herumhantiere. Ich schenke meinem Bauchgefühl keine weitere Beachtung, verwische unsere Spuren und verschütte den Eingang. Als ich endlich hinter dem Flamingohaus aus unserem Geheimgang trete, um mich auf meinen morgendlichen Rundgang zu begeben, blendet mich das Tageslicht, ich bin hungrig und würde mich am liebsten gleich wieder hinlegen.
»Morgen, Ray«, begrüßt mich einer der Flamingos. »Spät dran, heute.«
»Morgen.«
Ich habe versucht, sie auseinanderzuhalten und mir ihre Namen einzuprägen, aber Flamingos können sich selbst nur so weit auseinanderhalten, dass sie wissen, wer Männchen und wer Weibchen ist. Und nicht einmal das gelingt ihnen zuverlässig. Wie immer schlafen einige von ihnen, während andere wach sind. Eine Spezies, bei der man die Männchen nicht von den Weibchen unterscheiden kann und die außerdem tag-
und
nachtaktiv ist. Klarer Beweis dafür, dass auch Gott manchmal schräge Tage hat.
Ich schlüpfe durch die Hecke und trete meinen Rundgang an. Bis hierher verläuft also alles nach Plan. In Kürze wird der Zoo seine Pforten öffnen, die Luft sich mit dem Gekreische zahlloser Kinder füllen und der ewig wiederkehrende Trott Einzug halten. Höchste Zeit, mich auf andere Gedanken zu bringen – wo ich schon den Morgen in Anwesenheit einer Leiche verbracht habe.
Vorübergehend funktioniert es: Bereits beim Nashorngehege finde ich wieder Gefallen an meinen täglichen, kleinen Späßen. »Hey, Ursula!«, rufe ich und lehne mich lässig gegen einen Zaunpfeiler.
Wie immer, wenn Ursula mich sieht, wendet sich die
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