Ausgefressen
Klangbrei verschwimmen, warte, bis die Sonne sich auf dem See hinter dem Flamingohaus spiegelt, Elsa in ihrem Häuschen verschwindet und sich meine Geschwister nach und nach in den Bau zurückziehen. Irgendwann werde ich von einer leeren Zigarettenschachtel getroffen und verkrieche mich ebenfalls im Bau.
Bis Sonnenuntergang habe ich Zeit, eine Rede vorzubereiten. Vater hat eine Vollversammlung angeordnet, im großen Saal. Ich werde über den Stand der Dinge informieren und den Zusammenhalt der Familie beschwören. Wenn ich die Sache richtig anpacke, wird anschließend kaum noch einer an meinem Führungsanspruch zweifeln. Rufus macht sich derweil mit dem Smartphone vertraut. Er hat schon die Play List gecheckt. Sobald ich mit meiner Ansprache fertig bin, mache ich ihm ein Zeichen und »Gotta feeling« von den Black Eyed Peas wird den Raum in einen tanzenden Hexenkessel verwandeln – auch wenn der Sound ihn noch nicht zufriedenstellt. So jedenfalls ist der Plan.
Rufus hat mir mal gesagt, es gebe ein jüdisches Sprichwort: Willst du Gott zum Lachen bringen, mache einen Plan. Ich weiß nicht, ob ein Erdmännchen Gott zum Lachen bringen kann, aber als wir den Saal betreten, meine ich, den Allmächtigen zumindest kichern zu hören. Es ist gerammelt voll, meine Geschwister stehen Schulter an Schulter, die Luft ist besser zum Kauen als zum Atmen geeignet. Aus zwei Pizzaschachteln ist eine provisorische Bühne errichtet worden. Rufus hat seine Fahrradleuchte an ein dreibeiniges Minifotostativ getaped. Sie beleuchtet die Bühne wie ein Spot. Sobald die Musik einsetzt, will er sie auf »Strobo-Funktion« umstellen. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, aber er klang sehr bedeutsam.
Bevor wir die Bühne erreichen, wird es plötzlich dunkel. Rocky hat sich vor uns aufgebaut. Man kann von ihm sagen, was man will, aber seine Brust ist tatsächlich so breit wie Rufus’ und meine zusammen.
»Pa will, dass ich die Ansprache halte«, erklärt er.
Rufus verdreht die Augen: »Willst du dir das wirklich antun?«
Rocky kapiert nicht genau, wie Rufus’ Frage gemeint ist, aber er ahnt, dass eine Beleidigung darin lauert. Er betrachtet die zugegeben sehr imposanten Krallen seiner linken Klaue. »Willst du dir
das
wirklich antun?«, gibt er zurück.
»Billige Retourkutsche«, nuschelt Rufus. »Bitte, großer Bruder«, er tritt einen Schritt zurück und deutet zur Bühne. »Ich bin sicher, der Clan kann es kaum erwarten, deine Ansprache zu hören.«
Rocky scheint zufrieden und wendet sich an mich: »Hast du noch was zu sagen?«
»Nö.«
Rufus und ich sehen unserem Bruder nach, wie er seinen muskelbepackten Körper die Pizzaschachteln hinaufwuchtet. »Es hätte ein so erhebender Moment werden können«, kommentiert mein kleiner Bruder.
Rocky tritt in den Lichtkegel, hebt die Arme und nimmt befriedigt zur Kenntnis, dass die Menge augenblicklich verstummt. »Äh, Leute …«, setzt er an. »Ich hab euch was zu sagen!« Es folgt eine Denkpause, in der ein Flamingo bequem von Spanien nach Marokko fliegen könnte. Roxane, die direkt vor der Bühne steht, blickt huldvoll zu ihm auf.
»Vereint im geistigen Vakuum«, schnalzt Rufus.
»Ich hab gute Neuigkeiten«, nimmt Rocky den Faden wieder auf. »Sehr gute Neuigkeiten …
Sehr,
sehr gute Neuigkeiten …« Und langsam,
sehr
, sehr langsam, schwingt sich der Flamingo in die Luft auf und tritt seinen Rückweg nach Spanien an …
Rocky bemerkt die wachsende Unruhe und beschließt die Flucht nach vorn: »Die ›Operation Syphilis‹ war ein Erfolg!«, verkündet er, »ein
voller
Erfolg!«
Ich stoße Rufus ungläubig in die Seite: »›Operation
Syphilis
‹?«
»Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst«, gibt mein Bruder zurück.
Von hinten ertönt Ninos Stimme: »Endlich mal einer, der weiß, wovon er redet!«
Allgemeines Gelächter. Seit dem Leichenfund hat der vierte Wurf mächtig Oberwasser. Außerdem, fürchte ich, sind die Jungs immer noch auf Traubenzucker.
»Unter meiner Leitung ist es mir gelungen«, fährt Rocky fort, »dass wir die Leiche gefunden haben. Und deshalb haben wir jetzt – und auch in Zukunft werden wir ihn haben – diesen Breitbild… dieses Gerät, mit dem wir jetzt – und auch in Zukunft – allen möglichen Scheiß gucken können. Und hören. Rufus!«
»Du brauchst nicht zu schreien«, sagt mein kleiner Bruder gelangweilt vom Bühnenrand. »Ich stehe neben dir.«
»Gut.
Sehr
gut! Dann zeig den anderen mal, was unser neuer
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